© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/15 / 28. August 2015

„Banal und böse“
Ist der Islamische Staat tatsächlich ein Staat? Ja, aber kein islamischer, meint Jürgen Todenhöfer, der das Kalifat als erster deutscher Journalist bereist hat
Moritz Schwarz

Herr Dr.Todenhöfer, warum ausgerechnet Sie?

Todenhöfer: Das müssen Sie den sogenannten Islamischen Staat fragen.  

Im Dezember gestattete der Ihnen einen zehntägigen Besuch in seinem Kalifat.

Todenhöfer: Mein Sohn und ich haben über achtzig deutsche Dschihadisten angeschrieben und so Kontakt mit dem IS aufgenommen. Wir haben monatelang verhandelt, bis wir eine persönliche Sicherheitsgarantie des „Kalifats“ bekamen.

Die Zusage haben Sie, so vermuten Sie, auch deshalb bekommen, weil deutsche IS-Vertreter Ihre Bücher kennen.

Todenhöfer: Ja und nein. Wahrscheinlich war der Hauptgrund, daß wir die einzigen Westler waren, die den Wunsch geäußert hatten, den IS zu besuchen.

Dennoch haben Sie sich ein Medikament besorgt, um sich im Notfall durch eine Überdosis töten zu können. Wie gefährlich war Ihre Reise?

Todenhöfer: Hätte ich die Gefahr als zu hoch eingeschätzt, wäre ich nicht gefahren. Die schriftliche Garantie des „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi hat uns eine gewisse Sicherheit gegeben. Sie hat großen Eindruck gemacht, wann immer wir sie vorgezeigt haben. Das Medikament habe ich besorgt, weil es immer ein Restrisiko gibt. Das machen auch Spezialkämpfer so.

Warum hatte der IS überhaupt ein Interesse daran, Jürgen Todenhöfer zu empfangen?

Todenhöfer: Ich war denen wahrscheinlich ziemlich egal, genauso wie meine Meinung. Sie wußten, daß ich ein Gegner des IS bin. Ich hatte das mehrfach publiziert. Aber wie jede Organisation, die Journalisten oder Publizisten einlädt, will auch der IS sich mitteilen, die Welt etwas über sich wissen lassen. Diesmal haben sie ausnahmsweise den herkömmlichen Weg beschritten und einen Publizisten nicht geköpft, sondern ganz normal mit einer Sicherheitsgarantie einreisen lassen.

Was will der IS denn mitteilen?

Todenhöfer: Er will kommunizieren, daß er inzwischen ein Staat ist – daß sie nicht nur Terroristen sind, sondern auch Staatsgründer.  

Tatsächlich, ist der IS ein Staat?

Todenhöfer: Er verwaltet sein Staatsgebiet wie ein Staat. Mit Steuern, Polizei, Verkehrs- und Gesundheitswesen etc. Wenn auch mehr schlecht als recht. Der IS ist leider de facto ein Staat, allerdings kein islamischer Staat.

Inwiefern?

Todenhöfer: Es ist ein antiislamischer, satanischer Staat – weil er alle wichtigen islamischen Werte mit Füßen tritt. Es ist zum Beispiel unislamisch, andere zwangszubekehren, Zivilisten zu töten, Gotteshäuser zu zerstören und so weiter.

Haben Sie das denen auch gesagt?

Todenhöfer: Deutlicher als jeder andere das wahrscheinlich getan hätte. Die Reise stand einige Male kurz vor dem Abbruch. Ich mußte dabei übrigens lernen, daß einige IS-Kämpfer gar nicht wissen, was im Koran steht, daß sie Koran-Analphabeten sind.

Der Journalist Bruno Schirra, ebenfalls Autor eines IS-Buches, meint, natürlich könne man den Koran gegen den IS auslegen, ebenso aber im Sinne des IS. Folglich sei die Behauptung, der Islamische Staat habe nichts mit dem Islam zu tun, Unsinn.

Todenhöfer: Der Islam ist nur Maske der Führung des IS. So wie das Christentum nur Maske von George W. Bush war, als er seine Kriege plante und ständig die Bibel zitierte. Wie die Bibel enthält auch der Koran Passagen, die die Verhältnisse der damaligen Zeit widerspiegeln. Etwa die Kämpfe der Jahre 623 bis 630 n. Chr., als Mohammed von Mekka nach Medina geflohen war und immer wieder von den Mekkanern angegriffen wurde. Nach islamischem Glauben bekam er in dieser Zeit konkrete Anweisungen von Allah, wie er sich in den Kämpfen zu verhalten habe. Heute legen einige Gegner des Islam, genauso wie radikale „Islamisten“, diese für bestimmte geschichtliche Situationen gegebenen Anweisungen so aus, als seien sie für alle Zeiten gemeint. Das ist nicht zulässig, wie mir alle ernsthaften Korangelehrten bestätigt haben.

Sehen Sie den Koran nicht zu milde?

Todenhöfer: Viele Westler vergessen, daß der Koran in einer Zeit archaischer Stammesgesellschaften vor allem Gerechtigkeit, Gleichheit und Barmherzigkeit lehrte. Das ist der Kern des Koran. Berühmte westliche Koranforscher stufen Mohammed deshalb als einen großen egalitären Revolutionär ein. Falls Sie all das nicht überzeugt, erinnere ich an das Alte Testament, in dem Moses seine Krieger scharf kritisiert, weil sie die Frauen und männlichen Kinder des Feindes nicht getötet hatten. Er weist sie an, zurückzugehen, um das zu erledigen. Nur Dummköpfe würden sagen, daß diese und viele andere blutige Befehle Moses auch für die heutige Zeit gelten. Das ist erkennbar nicht die Botschaft dieses großartigen Buches.

Laut Ihrer Schilderung ist der Alltag im Islamischen Staat recht banal.

Todenhöfer: Auch dort ist Alltag Alltag. In seinen Internetvideos gibt sich der IS martialisch, es wird gekämpft, gesiegt, marschiert, Fahnen flattern. Die Realität außerhalb der Kämpfe ist meist nicht so. Eben diese Banalität des Bösen wollte ich sehen – ich wollte hinter die IS-Propagandakulissen schauen. Als ich einen Richter fragte, ob er Strafen wie Steinigung, Auspeitschen oder Amputation oft verhänge, verneinte er – weil die bereits verhängten Strafen dieser Art sehr abschreckend gewirkt hätten. Mein IS-Begleiter bot mir sogleich an, so etwas für mich zu organisieren: Was ich denn genau sehen möchte: Handabhacken? Kopfabschneiden? Solle der Delinquent Schiit oder Kurde sein? Das war die Banalität des Bösen.

Welchen Eindruck machen die normalen Menschen dort?

Todenhöfer: Ich war in Mosul. Nach der Ermordung, Vertreibung oder Flucht der Schiiten, Jesiden und Christen sind dort wahrscheinlich deutlich weniger als zwei Millionen Sunniten übriggeblieben. Vielleicht sogar nur noch eine Million. Darunter auch junge Leute, die man dort nicht erwarten würde. Mit westlicher Frisur, engen Jeans und T-Shirts oder dem Trikot der Bayern-München-Fußballer Arjen Robben und Franck Ribéry. Als ich nachfragte, sagten meine IS-Begleiter, solange diese Leute nicht gegen die Scharia verstießen, sei ihnen egal, was sie anziehen.

Die Menschen bewegen sich also nicht nur mit gesenktem Blick und wagen sich nur in Angst auf die Straße?

Todenhöfer: Ganz und gar nicht. Obwohl der IS eine brutale Killertruppe ist, ist er für Sunniten das kleinere Übel. Denn seit dem Sturz Saddam Husseins wurden die Sunniten von den neuen schiitischen Machthabern mit Hilfe der USA weitgehend aus dem politischen Leben ausgeschaltet, diskriminiert. Aber selbst Sunniten, die sich über Niederlagen der Schiiten gegen den IS freuen, sind deshalb nicht automatisch überzeugte IS-Anhänger. Ich höre von meinen irakischen Freunden, daß die innere Abneigung der gemäßigten sunnitischen Bevölkerung gegen die brutale Kulturlosigkeit des IS wächst. Dennoch drängt die nach wie vor diskriminierende Politik der schiitisch dominierten Regierung die Sunniten immer wieder an die Seite des IS. Solange sich das nicht ändert, ist es unmöglich, den IS zu schlagen.

Warum schließen sich so viele junge Muslime aus Europa dem IS an?

Todenhöfer: Ein zentraler Grund ist die generelle Frust- und Protesthaltung junger Menschen. Ihr häufig pubertärer und spätpubertärer Protest gegen alles. Es ist ja nicht neu, daß junge Leute verzweifelt nach dem Sinn ihres Lebens suchen. Das zeigen linke wie rechte Jugendprotest-Bewegungen dieser Welt. In Deutschland gibt es knapp 8.000 Salafisten. Davon ist etwa ein Drittel gewaltbereit – das heißt 2.000 bis 3.000 Personen. Das sind 0,05 Prozent der deutschen Muslime. Bei dieser radikalen Minderheit kommen zur allgemeinen jugendlichen Protesthaltung folgende Besonderheiten dazu: Erstens: Sie fühlen sich bei uns massiv diskriminiert. Zweitens: Sie sehen das Unheil, das wir Westler mit unseren Kriegen im Mittleren Osten angerichtet haben. Drittens: Sie lassen sich von politischen Rattenfängern überzeugen, sie könnten in Syrien jetzt Teil einer angeblich vor 1.400 Jahre angekündigten historischen Schlacht zwischen Gut und Böse werden. Viertens: Sie sind beeindruckt von den erstaunlichen militärischen Erfolgen des IS. Endlich scheint ihr bisher sinnloses Leben einen Sinn zu bekommen. Zum ersten Mal in ihrem Leben sind sie wichtig. Werden gebraucht. Sie glauben, im „Islamischen Staat“ könnten sie endlich ihren ganzen Frust loswerden. Über die westliche Welt, die sie ablehnt, und über die muslimische Welt, die gegen diesen Westen keinen Plan hat. Sie wollen im IS ihren Protest gegen das Establishment in West und Ost austoben. So provokativ wie möglich. Pegida, AfD und andere Islamfeinde spielen da eine gefährliche Rolle. Ihre Islamfeindschaft bestätigt die Radikalen unter den Salafisten und treibt sie in die Arme von IS-Rattenfängern. Die IS-Führung sieht in AfD, Pegida und in Rechtsradikalen ihre besten Hilfstruppen, nützliche Idioten. Das wurde uns auf unserer Reise oft gesagt.

Wie kann man den IS schlagen?

Todenhöfer: Auf zwei Wegen. Erstens: Man muß den IS ideologisch widerlegen und immer wieder öffentlich zeigen, daß sein Verhalten in krassem Widerspruch zum Koran steht, also unislamisch ist. Zweitens: Man muß dem IS seine sunnitische Basis entziehen. Die Regierung in Bagdad tut aber genau das Gegenteil: Sie greift vom IS gehaltene sunnitische Städte mit schiitischen Milizen an. Die bestehen aus Söldnern und oft aus Kriminellen und Terroristen. Die haben unter Sunniten derart gewütet, daß sich diese noch weiter an die Seite des IS gedrängt sehen. Wenn sich das fortsetzt, wird das Problem unlösbar.Dann kämpfen eines Tages nicht mehr 30.000 bis 50.000 rekrutierte Terroristen auf der Seite des IS, sondern zehn Millionen Sunniten.

Vor dessen jüngsten Erfolgen, der Eroberung von Ramadi und Palmyra, vermuteten einige Medien, der IS habe seinen Zenit bereits überschritten.

Todenhöfer: Das war Kriegspropaganda. Ja, der IS hat sich aus Kobane zurückgezogen – aber nicht, weil er von den wirklich tapferen Kurden besiegt wurde, sondern weil sich ein Weiterkämpfen dort für ihn nicht gelohnt hat. Die Stadt wurde von den USA fast zu hundert Prozent plattgebombt. Es gab für die Guerilla-Kämpfer des IS keine Möglichkeit mehr, sich irgendwo zu verstecken. Der IS hat seine Kämpfer auch weitgehend aus Tikrit zurückgezogen – um mit diesen dann zur Überraschung westlicher Schreibtischhelden in Ramadi von den USA ausgebildete irakische „Eliteeinheiten“ zu vertreiben. Die zahlenmäßig haushoch überlegen waren. Das ist wie im Vietnamkrieg: Der IS verliert ein Tal und erobert stattdessen ein anderes oder zwei. In Vietnam gab es von US-Seite auch ständig Erfolgsmeldungen, und hinterher konnte niemand erklären, warum der Krieg plötzlich doch verloren war.

Sie sagen, Strategie des IS sei, die USA zurück in den Irak zu locken.

Todenhöfer: So ist es. Der IS will gegen amerikanische Bodentruppen kämpfen.

Ist das nicht nur Propaganda, um sich in der arabischen Welt als die Macht darzustellen, die sogar die USA herausfordert?

Todenhöfer: Nein, das meinen die ernst! Erstens ist der IS von seinen Siegen berauscht, zweitens lebt er in der Vorstellung, er führe gerade die genannte apokalyptische Entscheidungsschlacht zwischen Gut und Böse. Und drittens spinnen die ganz schön kräftig. Die leben in einer Parallelwelt.

Könnten die USA den IS besiegen?

Todenhöfer: Nein.

Würde die schiere US-Feuerkraft im offenen Wüstengelände nicht alles vernichten?

Todenhöfer: Der IS stellt sich doch nicht einer offenen Feldschlacht! Die würden den USA einen Guerillakrieg in den Städten liefern. Generell gilt: Der IS dreht die Gewaltspirale weiter als alle anderen, er zelebriert seine Gewalt. Das sind Sado-Terroristen. Allerdings, auch westliche Bomben töten grausam, zerfetzen Menschen, verbrennen sie bei lebendigem Leib. Bomben töten keineswegs immer sofort. Aber das sehen wir nicht. Und wollen wir nicht sehen. Mein Besuch im „Islamischen Staat“ hat mich in meiner Verachtung von Krieg und Terrorismus massiv bestärkt. Und letztlich auch tief deprimiert. 






Dr. Jürgen Todenhöfer, seit Jahren bereist der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete und Burda-Vorstand die Kriegs- und Krisengebiete des Nahen und Mittleren Ostens. Todenhöfer, 1940 in Offenburg geboren, publizierte zahlreiche Bücher. Im April ist sein neuer Bestseller erschienen: „Inside IS. Zehn Tage im ‘Islamischen Staat’“. Sein Honorar spendete er für syrische Flüchtlingskinder.

Foto: Journalist Todenhöfer (Mitte) und Jugendliche in Mosul, Marktgeschehen unter Propagandabannern, IS-Milizionäre und Kindersoldaten: „Junge Leute in westlicher Kleidung, die man dort nicht erwarten würde“

 

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