© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/15 / 28. August 2015

An Ranke scheiden sich die Geister
Der britische Historiker Whaley und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation
Peter Michael Seidel

Als der später „der Große“ genannte junge Friedrich von Preußen am 16. Dezember 1740 mit einer Armee von 30.000 Mann im österreichischen Schlesien einmarschierte, kam er den Sachsen dramatisch zuvor: die hatten selbst darauf gehofft, einen Teil Schlesiens zu gewinnen, einen Korridor entlang der schlesischen Nordgrenze, um so eine Landverbindung mit dem in Personalunion verbundenen Polen zu erreichen – allerdings auf dem Verhandlungswege. Des sächsischen Ministerpräsidenten „für Sachsen letztlich ruinöses  Bestreben war, die sächsische Herrschaft über Polen zu stärken“. Es kam bekanntlich anders.

Diese kleine Geschichte ist eine von vielen, die Joachim Whaley in seinem monumentalen, zweibändigen Werk über „Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation 1493–1806“ erzählt. Der Geschichtsprofessor an der englischen Universität Cambridge hat damit ein buntes Potpourri vorgelegt über mehr als drei Jahrhunderte deutscher Geschichte, die Geschichte des Alten Reiches, eher eine Landeskunde als eine politische Geschichte, und mit seinen fast 1.700 Seiten sowie der Vielfalt der behandelten Teilgebiete und der Breite der angeführten Informationen hier nur grundsätzlich zu besprechen.

Whaley beginnt seine Reichsgeschichte mit dem Jahr 1493, als der Habsburger Maximilian I. (der Erbe Burgunds und Spaniens und unmittelbare Vorgänger Kaiser Karls V.) „Alleinherrscher“, aber noch nicht Kaiser wurde. Was das heißt und wieso er dieses Datum wählt, macht er allerdings nicht deutlich. Sie endet naturgemäß 1806, als Franz II. auf ein Ultimatum Napoleons hin als römisch-deutscher Kaiser abdankte. Für die Zwischenzeit befaßt sich Whaley in sechs Kapiteln vor allem mit der inneren Entwicklung des Alten Reiches, in zweien davon auch dezidiert mit der Entwicklung seiner Territorien. 

Deutschland mißlang es, Nationalstaat zu werden

Diese Fokussierung auf die Territorien wird leider auf der Titelseite ausgelassen und erst im Innenteil hervorgehoben, was falsche Erwartungen weckt. So ist die Binnensicht bereits programmiert, auch wenn der Blick auf das internationale Umfeld nicht völlig außen vor bleibt. Dies kann man so machen: Das Alte Reich war problemlösungs- und reformunfähig, moderne Staatlichkeit konnte sich so nur in den einzelnen Territorien entwickeln. Und das war in sehr unterschiedlichem Maße der Fall – bei der Vielzahl der Territorien kein Wunder.

Weitgehend positiv aufgenommen wird das Buch von den Revisionisten, also den deutschen „Historikern der Sonderweg-Schule in den 1960er und 1970er Jahren (Whaley)“ mit ihrer Binnenperspektive. Letzteres wird deutlich in Rezensionen, die bei Whaley positiv die „Revision der längst überholten Nationalerzählung“ hervorheben und in der FAZ zufrieden vermerken, daß die „preußische Meistererzählung“ vom Niedergang des Reiches und vom Westfälischen Frieden als nationaler Katastrophe „endgültig zu Grabe getragen worden“ sei.  Im Mittelpunkt steht dabei immer die Umwertung des Westfälischen Friedens, die auch in der bundesdeutschen Politik vor dem Mauerfall sehr beliebt war, und damit verbunden die fragwürdige These, die Frühe Neuzeit sei für das Reich „keinesfalls eine Periode des Niedergangs“ gewesen. 

Den Revisionisten ist Whaley allerdings nicht einfach zuzurechnen, was nicht verwundert, da dieser aus einem sich im Schilderungszeitraum erfolgreich entwickelnden Nationalstaat kommt, im Gegensatz zur deutschen Geschichtswissenschaft in den Jahrzehnten vor dem Mauerfall. Und kaum einer der Revisionisten würde wohl seiner Feststellung zustimmen, daß „vom späten 15. bis Mitte des 18. Jahrhunderts (...) das Reich geprägt (war) durch die Notwendigkeit, sich gegen äußere Feinde zu verteidigen“.

Bereits zwei Jahre vor dem Fall der Mauer hatte der Amerikaner Paul Kennedy darauf verwiesen: „Dies wäre eine unvollständige Analyse, wenn man die Erfahrungen anderer europäischer Mächte außer acht ließe“, übrigens unter ausdrücklichem Bezug auf den „Essay des berühmten preußischen Historikers Leopold von Ranke aus dem Jahre 1833 über ‘Die großen Mächte’“ und ihren jeweiligen Auf- und Abstieg! Teilweise unter Berufung auf Kennedy und als Antwort auf die Revisionisten kam es nach der Wiedervereinigung bei Historikern und Politologen wie Hans-Peter Schwarz, Christian Hacke und jüngst Herfried Münkler zu einer Ranke-Renaissance, die zwar an Whaley nicht völlig vorbeigeht (er zitiert ihn immer wieder zu Beginn vieler Kapitel), von ihm aber auch nicht mitvollzogen wird.  

 Für diese Nach-Revisionisten jedenfalls gilt wieder, gerade was die revisionistische Umwertung des Westfälischen Friedens und die Entwicklung des Alten Reiches angeht, nach wie vor und mehr denn je Kissingers klassisches Urteil: „Deutschland gelang es nicht, ein Nationalstaat zu werden. Zerstückelt und von kleinlichen dynastischen Streitigkeiten aufgezehrt, kehrte es sich nach innen. Das Ergebnis dieser Vorgänge war, daß Deutschland keine nationale politische Kultur entwickelte, sondern in einem engstirnigen Provinzialismus erstarrte  (...) und als das Land sich schließlich vereinigte, fiel ihm die Definition seines nationalen Interesses so schwer, daß es im Verlauf dieses Prozesses die schlimmsten Tragödien (des vergangenen Jahrhunderts) bewirkte.“

  Aufschlußreich ist dennoch das nach wie vor ungebrochene Selbstvertrauen der Revisionisten trotz gegenläufiger wissenschaftlicher Entwicklungen nach 1990, ihr Festhalten an alten Positionen und auch ihre Kritik an Whaley wie jene in der FAZ: „Für deutschsprachige Leser bedeutet das Buch einen Rückschritt hinter den aktuellen Erkenntnisstand.“ Da fragt man sich dann allerdings, hinter welchen?

Um so fragwürdiger erscheint dann auch die Vorbildfunktion, die die Revisionisten gerne dem Alten Reich nach dem Westfälischen Frieden für die heutige EU zuweisen. Angesichts der Reformunfähigkeit und dem letztlichen Scheitern des Reiches eine zweischneidige Sache, wie beispielsweise die jüngste Veröffentlichung des deutsch-belgischen Historikers David Engels über die EU gezeigt hat (JF 37/14). Völlig zu Recht sprach man schließlich beim Blick auf die Landkarte auch vom „Flickenteppich“ des Reiches, von diesem selbst gar als einem (unregierbaren) „Monstrum“.

Der „Flickenteppich“ als Vorbild für die EU

Zum Zeitpunkt des preußischen Einmarsches in Schlesien hatte in Nord-amerika längst der englisch-spanische Krieg begonnen, in dem Spanien von Frankreich unterstützt wurde und der zusammen mit dem in Mitteleuropa geführten Siebenjährigen Krieg auch als der erste Weltkrieg der Neuzeit bezeichnet wurde. Über Zusammenhänge wie diesen erfahren wir leider nur sehr wenig bei Whaley. Sein voluminöses Werk ist deshalb eher etwas für Geschichtsliebhaber, die sich (auch) mit der Vorgeschichte ihres Bundeslandes befassen wollen. Eine Erklärung für das Scheitern des Alten Reiches und die Gründe dafür läßt sich besser bei den Nach-Revisionisten finden. Auch dies zeigt, daß das Buch von Whaley wohl doch 25 Jahre zu spät erschienen ist und viel besser in die außenpolitisch vielfach gehandicapte alte Bundesrepublik mit ihrer Fokussierung auf die Innenpolitik als in das wiedervereinigte Deutschland mit seiner gewachsenen internationalen Verantwortung paßt.

Joachim Whaley: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und seine Territorien 1493–1806. Verlag Philipp von Zabern, Darmstadt 2015, gebunden, 1.672 Seiten, 149 Euro