© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/15 / 04. September 2015

Vom hohen Roß herab
In der Asylkrise vertreten andere Nationen ihre Interessen / Berlin sollte sie nicht kritisieren, sondern kopieren
Michael Paulwitz

Unter dem außer Kontrolle geratenen Ansturm illegaler Einwanderer zerfällt das bisher geltende europäische Asylsystem wie ein Kartenhaus. Seine tragenden Elemente – erstens die Festlegung der Dublin-Abkommen, daß Asylanträge in dem Land bearbeitet werden müssen, in dem ein Asylbewerber zuerst EU-Boden betreten hat, zweitens die Verpflichtung der Staaten mit EU-Außengrenze, diese stellvertretend für alle zu schützen und zu kontrollieren, damit, drittens, die EU-Binnengrenzen im Schengen-Raum offenstehen können – erweisen sich unter dem hunderttausendfachen Migrationsdruck über die Schleuserrouten zu Wasser und zu Lande als nicht ernstfalltaugliche Schönwetter-Illusion.

Das nie außer Kraft gesetzte Prinzip „Jeder ist sich selbst der Nächste“ herrscht offen, seit die Dämme gebrochen sind. Die einen schotten sich gegen illegale Immigranten ab, so gut es geht; die anderen ignorieren ihre Verpflichtungen aus dem Dublin-Abkommen und leiten die an ihren Ufern und Grenzen gestrandeten Asylbewerber in ihr Hauptziel- und Wunschaufnahmeland Deutschland weiter.

Nur in den Wolkenkuckucksheimen der Europäischen Kommission und der Bundes- und Länderregierungen will man die Zeichen der Zeit nicht erkennen. In Brüssel bastelt man „freiwillige“ Quoten für Asyl-Einwanderer, von denen die Unterzeichner, kaum daß die Tinte trocken ist, schon nichts mehr wissen wollen; und in Berlin und den hoffnungslos überforderten Bundesländern verlangt man nach „gerechterer“ Verteilung der Lasten: Deutschland könne nicht alleine fast die Hälfte der nach Europa drängenden „Flüchtlinge“ aufnehmen.

Das deutsche „Solidaritäts“-Lamento ignoriert naiv die Realität, daß jede Staatenpolitik, auch die europäische, von demokratisch legitimierten Nationalstaaten und ihren Interessen getragen wird. Zudem ist es heuchlerisch, weil die deutsche Politik selbst, gefangen in überheblichem Moralabsolutismus und zahnlos gegenüber den maßlosen Forderungen seiner den öffentlichen Diskurs beherrschenden Asyllobby, viel zu lange selbst zum Schaden des Landes an den Grundpfeilern des europäischen Systems herumgesägt hat.

Die Kritik aus Österreich und Ungarn, Deutschland habe mit zweideutigen Aussagen zur Aufnahme syrischer Asylbewerber den aktuellen Ansturm auf die Budapester Bahnhöfe selbst provoziert, vor dem die ungarischen Behörden zeitweise kapitulierten, trifft den Kern, auch wenn die Bundeskanzlerin das im konkreten Fall herunterspielt. Als Ungarn Zäune errichtete, um die EU-Außengrenze vor illegalen Übertritten zu schützen, und dies ausdrücklich auch „für Deutschland“ tat, mußte es sich aus deutschen Kanälen herablassend moralisierende Kommentare anhören. 

Im Windschatten des Dublin-Abkommens, durch das sich die unschönen Szenen an den EU-Außengrenzen – bei anderen also – abspielten, hat Deutschland sich in bequemer Binnenlage einen hochmütigen Moralismus geleistet, der es nicht unverschuldet zum Magneten Europas gemacht hat. Lächerlich geringe Abschiebequoten, „Wintererlasse“ und Rücküberstellungsverbote nach Italien und Griechenland wegen angeblich unzumutbarer Zustände haben Dublin schon lange zuvor ausgehöhlt. 

Nicht einmal durch das Drängen der sich entvölkernden Westbalkanländer läßt sich die Bundesregierung dazu bringen, die Fehlanreize in Form der Geld- und Sozialleistungen zu korrigieren. Vielmehr sendet die demonstrativ zelebrierte „Willkommenskultur“ unaufhörlich neue Einladungen aus, sich im Sozialparadies Deutschland mit offenen Armen empfangen zu lassen.

Warum sollten die übrigen EU-Staaten Deutschland auf diesem Irrweg weiter folgen? Sie handeln im Auftrag ihrer Wähler, die einwanderungskritische Positionen belohnen, wenn sie sich gegen unkontrollierten Zustrom abschotten und, wie viele osteuropäische Staaten, die Aufnahme von Asylbewerbern aus fremden Kulturkreisen ablehnen. Von diesen Staaten eine gegenteilige Politik zu verlangen,  ist weder demokratisch noch im Geiste europäischer Solidarität.

Der Einwand, daß EU-Staaten wie Großbritannien und Frankreich durch ihre Destabilisierungspolitik in Libyen und Syrien an den Immigrantenströmen selbst nicht unschuldig sind, ist sicherlich berechtigt. Eine „europäische Lösung“ kann dennoch nicht darin bestehen, die eigene Passivität gegenüber den Folgen anderen aufzuzwingen. Wenn Deutschland noch europäische Gemeinsamkeiten in der Asylkrise finden will, muß es sich vom humanitären Moralimperialismus verabschieden und realistische nationale Interessen definieren und verfolgen. Es muß die nationalen Interessen und das Identitätsbewußtsein anderer respektieren, statt wie der Bundesinnenminister die Slowaken arrogant zu belehren, sie sollten endlich Moscheen bauen, damit sich muslimische Asylbewerber bei ihnen wohler fühlen. 

Deutschland muß mit drastisch reduzierten Sozialleistungen, konsequenter Abschiebung abgelehnter Asylbewerber und grenznahen Auffanglagern falsche Anreize abbauen, statt sich die unkontrollierte Asyl-Immigration als „Chance“ schönzureden. Da eine kurzfristige Verbesserung der Verhältnisse in den Herkunftsländern nur in Sonntagsreden möglich ist, muß es vom hohen Moralroß steigen und sich ohne Wenn und Aber zur wirksamen Abschottung Europas bekennen. Und es muß Vorreiter sein bei der Erkenntnis, daß das Schengen-Abkommen gescheitert ist und die Rückkehr zu ständigen nationalen Grenzkontrollen zur Verhinderung grenzüberschreitender Kriminalität und illegaler Immigration unerläßlich ist. 

Ohne eine solche pragmatische Wende kann Deutschland nur staunend hinterherschauen, wie andere ihre nationalen Interessen ohne Rücksicht auf deutsche Befindlichkeiten wahren.