© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/15 / 04. September 2015

Die Legende von Kyritz
70 Jahre „Bodenreform“: In Brandenburg erinnern Opferverbände an das Unrecht der Enteignungen
Felix Lehmann

Pfarrer Rainer Wagner findet deutliche Worte. „Ein Regime, das zur Durchsetzung seiner Ziele über Leichen geht, tut Unrecht. Daß dieses Unrecht in der Bundesrepublik fortgesetzt wurde, schmerzt doppelt.“ Kyritz in Brandenburg. Die kleine Gemeinde ist mit dem Unrecht während der sowjetischen Besatzungszeit schicksalhaft verknüpft. Hier hielt der damalige KPD-Vorsitzende und später SED-Mitbegründer Wilhelm Pieck am 2. September 1945 seine Rede zur Enteignung und Zwangskollektivierung des bäuerlichen Landbesitzes auf dem Gebiet der späteren DDR. Großgrundbesitzer und Landeigner, die als Kriegsverbrecher oder Nationalsozialisten eingestuft waren, wurden entschädigungslos enteignet.

Aus Anlaß des 70. Jahrestages der Bodenreform erinnerten vergangenen Samstag rund 50 Teilnehmer, darunter Geschädigte und deren Nachfahrenam am Gedenkstein für die Opfer der „Bodenreform“ mit einem schwarzen Gedenkkreuz und Kranzniederlegungen an das erlittene Unrecht. An jenem Gedenkort wurde einst zu DDR-Zeiten die „Errungenschaften“ der Kollektivierung verherrlicht. Nach der Wiedervereinigung wurde das Denkmal umgewidmet.

Vor allem in der sowjetischen Besatzungszone richtete sich die Maßnahme auf Geheiß Stalins gezielt gegen den Adel. „Junkerland in Bauernhand“ lautete das Motto. Als Blaupause dienten die Kollektivierung in der Sowjetunion und Repressionen gegen die „Kulaken“. Paragraph eins des Gesetzes regelte die „Liquidierung der Klasse der Großgrundbesitzer“. Ein Landbesitz von mehr als 100 Hektar reichte, um zum Staatsfeind zu werden.

Nach der Wende schlossen sich die Überlebenden der Bodenreform zusammen. Die „Aktionsgemeinschaft Recht und Eigentum“ und die „Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft“ versuchen seit Jahrzehnten, eine Wiedergutmachung für das erlittene Unrecht zu erwirken.

Die DDR-Geschichtsschreibung hob in der Folge gern auf die Errungenschaften der „demokratischen Bodenreform“ ab. Das konfiszierte Land wurde Kleinbauern vermacht, die gemäß der Propaganda „auf freier Scholle“ tätig sein durften. Viele waren Flüchtlinge, die aus den ehemaligen Ostgebieten vertrieben worden waren. „Doch das Land wurde so zugeschnitten, daß keine überlebensfähigen Betriebe entstehen konnten“, stellt der Projektleiter beim Institut für Zeitgeschichte München, Manfred Wilke, bei der Gedenkstunde fest. Doch auch die Kleinbauern profitierten nicht lange von ihrem Grundbesitz. Im Zuge der 1952 einsetzenden Zwangskollektivierung wurden die kleinbäuerlichen Strukturen wieder aufgelöst und in sozialistische Musterbetriebe, die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, überführt. 

Selbst bei Familien aus dem Umfeld der Hitler-Attentäter des 20. Juli 1944 machten die Sowjetplaner bei der „Bodenreform“ keine Ausnahme.Die enteigneten Großgrundbesitzer wurden als „Kriegsverbrecher“ und „Nazis“ in Speziallager deportiert. Sowjetischen Angaben zufolge überlebten 35 Prozent der Betroffenen die Lagerhaft nicht. Pfarrer Wagner nennt in seiner Andacht nähere Details: Allein 60.000 Gefangene kamen in das ehemalige Konzentrationslager Sachsenhausen – 12.000 davon verhungerten. In Buchenwald und Bautzen wurden etwa 30.000 Opfer der „Bodenreform“ inhaftiert. Seriöse Schätzungen gehen von fast 50.000 Todesopfern der sowjetischen Repression aus. „Daß dies bis heute nicht bekannt ist, ist unverständlich“, sagt Pfarrer Wagner in seiner Andacht. „Die Politik agiert nach dem Motto: Wo gehobelt wird, da fallen Späne!“

Betroffene kritisieren DDR-Jargon

„Wir wollen angesichts dieser Ereignisse erst einmal wachrütteln“, sagt ein älterer Herr. Da die Politik sich taub stelle, sei man von Entschädigungen noch weit entfernt. Tatsächlich ist die Politik an diesem Samstag nur spärlich vertreten. Der einzige anwesende Politiker an diesem Tag ist Axel Vogel, der Fraktionsvorsitzende der Grünen-Landtagsfraktion Brandenburgs. „Die Bodenreform und die damit verbundene Zwangskollektivierung kann man nicht trennen“, gibt er zu bedenken. Die deutschen Behörden sehen das anders. Die „demokratische Bodenreform“ sei eine souveräne Entscheidung der DDR gewesen. Daß die Enteignungen von Stalin angeordnet wurden, fand in der Argumentation von Behörden und Gerichten keine Berücksichtigung.

Daß dabei sogar der DDR-Jargon kritiklos übernommen wird, treibt die Opfer in die Verzweiflung. Nach der Wende ging der konfiszierte Grundbesitz – aus dem zwischenzeitlich „volkseigene Betriebe“ geworden waren – in den Besitz des Bundes über, der die Flächen später wieder veräußerte. Heute zeigen sich vor allem Investoren aus Fernost an dem fruchtbaren Ackerland interessiert.