© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/15 / 04. September 2015

Die Wirtschaftslokomotive soll helfen
Börsenkrise: Die Kurseinbrüche im August offenbaren eine systemische Krise / Fall der Wachstumsraten
Thomas Fasbender

Zwischen 1995 und dem Jahr 2000 verdreifachte sich der deutsche Aktienindex von unter 2.500 auf über 7.500. Danach ging es bis 2003 wieder bergab auf 2.500. Der folgende börsielle Aufschwung dauerte bis 2007, als der Dax zwischen 7.500 und 8.000 pendelte. Die Weltfinanzkrise schickte den Dax 2009 dann wieder kurzzeitig Richtung 3.000. Seither ging es – mit kurzen Unterbrechungen 2011 und 2014 – steil bergauf: im Frühjahr dieses Jahres wurde mit 12.390 ein Dax-Allzeithoch gefeiert. Doch im August stürzte der Dax auf unter 9.750 – das Niveau vor einem Jahr. Und die momentane Entwicklung nicht nur an den ostasiatischen Börsen läßt nichts Gutes erwarten.

Inzwischen jagt eine systemische Krise die andere; im nachhinein wirkten das zyklische Auf und Ab regionaler Konjunkturen in der Vergangenheit wie die ruhige Abfolge der Jahreszeiten im Wald. Früher führte immer mindestens eine Volkswirtschaft als kraftvolle Lokomotive den Troß an. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren das die USA mit ihrer Leitwährung Dollar, später trat ihnen die Bundesrepublik Deutschland zur Seite. Vor einem Vierteljahrhundert übernahmen die Schwellenländer mit China an der Spitze den Stab. Im Zeichen von Wiederaufbau, Digitalisierung und Globalisierung genossen fast drei Generationen Wachstumsraten, die historisch jeden Vergleich sprengen.

Nun scheinen die fetten Jahrzehnte vorüber. Weil die Verantwortlichen das spüren, vom Mittelstand bis in die Großkonzerne hinein, halten sie sich mit Investitionen zurück. Das Geld bleibt auf der Bank, auch der Nullzins bringt es nicht dazu, sich auf Investitionsabenteuer einzulassen. Der Finanzbranche beschert das derzeit einen Triebstau sondergleichen. Die Sucht nach Megarendite pumpte Blasen auf. Die Lehman-Krise 2008 war der Anfang. Mit todsicheren Derivaten auf faule Kredite sattes Geld verdienen – wer hätte da nein gesagt?

Die Eurokrise ist im Kern nichts anderes. Wer weiß, daß der Schuldner gute Bürgen hat – etwa die deutschen Steuerzahler –, findet alles kreditwürdig. Oder glaubt jemand, der US-Investmentfonds Franklin Templeton übernimmt ein Fünftel der ukrainischen Staatsanleihen – also etwa fünf Milliarden US-Dollar – allein im Vertrauen auf die Kiewer Bonität? Was mit Lehman begann, gilt längst auch für China. Brücken, Straßen und Flughäfen sind errichtet, Fabriken ohnehin. Seit Deng Xiaoping lautete das Wachstumsrezept: Konsumgüter für den verwöhnten Westen produzieren. Doch seit 2008 sitzt den Verbrauchern in Nordamerika, Europa und Australien der Beutel nicht mehr locker. Das neue Pekinger Motto lautet: Ankurbelung des inländischen Konsums. In Rußland nennt man das Pendant seit der Ukrainekrise: Importsubstitution. Beides ist leichter gesagt als getan.

Computerhandel ohne Haltefristen und Regeln

Die Folge sind die Blasen am chinesischen Immobilien- und Aktienmarkt: Der Shanghai Composite Index (SCI) stieg zwischen 2012 und Frühjahr 2015 von unter 2.000 auf über 5.100 – derzeit sind es nach einem Absturz auf unter 2.200 und massivem staatlichem Eingreifen (JF 30/15 ) wieder 3.200. Der brasilianische Aktienindex Bovespa ist seit der Erholung von 2010 sogar um 40 Prozent eingebrochen.

Doch die gleichzeitigen Kurskorrekturen in China und Rußland stehen für ein weiteres Phänomen: die Entkoppelung der westlichen und der nichtwestlichen Volkswirtschaften. Es scheint, als hätte die Globalisierung den Rückwärtsgang eingelegt. Das Prinzip „Rußland und Brasilien liefern die Rohstoffe, China produziert, USA und Europa konsumieren“ generiert kein Wachstum mehr, weder hüben noch drüben.

Die deutsche Volkswirtschaft ist mit einer Exportquote von 45,7 Prozent (2014) viel auslandsabhängiger als die chinesische – dort sind die Ausfuhren vor allem für das Wachstum von Bedeutung. Bei uns erhalten sie bald die Hälfte des Lebensstandards. Die USA haben im ersten Halbjahr 2015 erstmals seit 1961 Frankreich als wichtigsten Exportmarkt abgelöst: die deutschen US-Ausfuhren stiegen von 45 auf 56 Milliarden Euro. Der Frankreich-Absatz fiel hingegen von 53,5 auf 51,6 Milliarden Euro. Sollte der EU-Heimmarkt dauerhaft einbrechen, wäre das dramatisch.

Für die globalen Finanzmärkte ist die in Deutschland tonangebende ordoliberale Theorie irrelevant. Besser beschreiben lassen sich die Finanzmärkte, die seit den neunziger Jahren de facto keinerlei Kontrolle unterliegen, als dynamische Systeme – chaotische, sich selbst regulierende Abläufe, die mit linearen Modellen weder erfaßbar noch vorhersagbar sind. Der Hochgeschwindigkeits-Computerhandel, der keinerlei Haltefristen und Regeln kennt, hat mit dafür gesorgt, daß sich an den Weltbörsen im August kurzzeitig acht Billionen Dollar in Luft auflösten.

Die Gefahr ist, daß auch andere ökonomische Modelle ihre Bedeutung verlieren, wenn es keine hinreichenden Bezugsgrößen – etwa Leitwährungen und Wirtschaftslokomotiven – mehr gibt. Das wird regional am Bild der D-Mark deutlich. Jahrzehntelang orientierten sich die europäischen Volkswirtschaften an ihr und werteten ihr eigenes Geld je nach Produktivitätsfortschritt auf oder ab. Die gleiche Möglichkeit hat der Euro – Abwertung oder Aufwertung zum Dollar, Pfund, Yen oder Yuan.

Im Euroraum können Differenzen bei der Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr dadurch kompensiert werden – weshalb offen über Transfers der Gewinner an die Verlierer nachgedacht wird. Oder wie sich der Pariser Wirtschaftsminister Emmanuel Macron ausdrückt: „Wir wollen eine Neugründung Europas“, so der frühere Investmentbanker in der Süddeutschen. „Falls die Mitgliedstaaten wie bisher zu keiner Form von Finanztransfer in der Währungsunion bereit sind, können wir den Euro und die Eurozone vergessen“, so Macron. „Eine Währungsunion ohne Finanzausgleich – das gibt es nicht! Die Starken müssen helfen.“

Foto: Aktienindizes auf Talfahrt: „Die Starken müssen helfen“