© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/15 / 04. September 2015

Pränataldiagnostik
Um des Kindes willen
Ira Austenat

Freitag. Fünf Minuten vor eins. Gleich ist Wochenende. Die Sprechzimmertür wird geöffnet, ein zehn Tage altes Neugeborenes wird gebracht. Die Hebamme habe gesagt, es wäre doch gut, das Kind „vor dem Wochenende noch ärztlich vorzustellen, es würde beim Baden immer so komisch blau“. Im Augenblick scheint es eher blaß. Keine Vordiagnostik vorhanden. Kein feindiagnostischer Ultraschall in der Schwangerschaft. Geburtshausentbindung. Das Kind „riecht“ nach Herzfehler. Selbiger zeigt sich im umgehenden Ultraschall nur allzu schwerwiegend. Telefon, Herzzentrum, von der Praxis geht es direkt zum OP-Saal. Notfall-OP. Zwischenschritt zur Stabilisierung, um überhaupt eine kurierende OP durchführen zu können. Zum Glück lagen zwischen Praxis und herzchirurgischem OP-Saal nur 17 Kilometer. Sonst hätte das Kind keine Chance gehabt.

Was sich wie eine schlechte Romanvorlage für die nächste Arztserie liest, ist genau so geschehen. Ein potentiell tödliches Risiko, welches der Säugling nicht hätte erleben müssen, hätte es eine vernünftige Schwangerschaftsfeindiagnostik gegeben.

Leider ist zu beobachten, daß im Zuge der Debatte um die Rahmenbedingungen der (Nicht-)Erlaubnis von Abtreibungen zunehmend die diagnostischen Möglichkeiten während einer Schwangerschaft ins Schußfeld geraten. Sogleich wird das Horrorszenario des „Designbabys“ an die Wand gemalt, das natürlich umgehend selbst sehr robuste Naturen frösteln läßt. Gegen Frankensteinsche Moralauswüchse existiert kein Kraut. Und dennoch! Dennoch muß gefragt werden dürfen: Wenn wir das Ungeborene von Anfang an als menschliches Leben betrachten, dürfen wir dann Diagnostik und gegebenenfalls sogar Therapie durch Verbote verhindern, die nicht nur die Sterblichkeit rund um die Geburt senken, sondern im individuellen Fall konkret das Überleben sichern?

Um es am eingangs beschriebenen Fall des herzkranken Säuglings zu illustrieren: Der Junge überlebte, weil der Herz-Ultraschall sofort zur Verfügung stand und die Strecke zum OP-Saal äußerst kurz war. Das ist keinesfalls die Regel. Hier hat sein Schutzengel sein Bestes gegeben! Hätte er das nicht, wäre das zynische Fazit für die Mutter eine idyllische Schwangerschaft gewesen – leider ohne anschließende Kinderfreude. „Ihr Kind ist gestorben. Es hätte dies nicht müssen, wenn sie woanders entbunden hätten. Ohne Vordiagnostik konnte das aber keiner vorhersehen.“ So sieht der Alptraum eines Arzt-Patienten-Gespräches aus!

Veranschaulichen wir Schwangerschaft und Entbindung ausnahmsweise einmal nicht unter dem gängigen gynäkologischen Blickwinkel, sondern unter dem des Kinderarztes. Denn er ist es, der nach Durchtrennung der Nabelschnur im Kreißsaal im Ernstfall die „Kohlen aus dem Feuer“ holen muß. Für ihn beginnt seine Aufgabe in jenem Moment, in dem ihm das vital beeinträchtigte Neugeborene übergeben wird. Ohne Ergebnisse der Voruntersuchungen aus der Schwangerschaft gleicht seine Aufgabe zu diesem Zeitpunkt dem Warten mit verbundenen Augen an der Startlinie eines Hindernisrennens, dessen Hürden nach Zahl, Höhe und Verortung noch geheim sind. Um im Bild zu bleiben, hat er unter diesen Bedingungen zwar grundsätzliche Revierkenntnisse, durfte die zu bewältigende Strecke vorher jedoch nicht anschauen. Erst beim Startschuß werden ihm Augenbinde und Ohrschutz entfernt. Bedeutet dies nicht genau das Gegenteil dessen, was man beabsichtigen sollte: jedes Leben bestmöglich auf den Weg zu bringen? Bedeutet es nicht, das Recht auf bestmögliche körperliche Unversehrtheit des Neugeborenen zu riskieren?

Bei einer pränatal diagnostizierten Erkrankung stiege die Wahrscheinlichkeit der Abtreibung, heißt es. Das ist nicht richtig und nicht falsch. Sie steigt nicht, wenn Vertrauen aufgebaut werden kann, daß die betreffende Krankheit womöglich heilbar ist.

In der Erwachsenenmedizin wird sonst so gern der „mutmaßliche Wille des nicht einwilligungsfähigen Patienten“ bemüht. Es ist kaum vorzustellen, daß – könnte man das Kind selbst fragen – ein solch unnötiges Risiko seinem „zu vermutenden Patientenwillen“ entspräche. Warum werden Abtreibungsdiskussion und pränatale Diagnostik so schwammig – oder unüberlegt? – vermengt? Häufige Begründung: Bei einer pränatal diagnostizierten Erkrankung steigt die Wahrscheinlichkeit der Abtreibung. Das ist nicht richtig und nicht falsch. Zutreffend ist dies, wenn es sich um unheilbare, gegebenenfalls nicht lebensvereinbare Erkrankungen handelt. Sie steigt jedoch nicht, wenn Vertrauen aufgebaut werden kann, daß die betreffende Krankheit therapeutisch beeinflußbar, gar heilbar ist. Aber wo bitte ist das unabdingbar notwendige System der Geborgenheit, welches eine Familie bräuchte, um den steinigen Weg einer lebenslangen Behinderung zu meistern?

Versetzen wir uns gedanklich in eine Zeit zurück, in der mehr Kinder geboren wurden. In Abhängigkeit davon, wie weit wir in der Zeit zurückreisen, wird schnell klar, daß es auch damals nicht das Abtreibungsverbot war, das die Geburtenzahlen auf hohem Niveau hielt. Allzu gern wird jedoch bei dieser Art von Nostalgie unterschlagen, daß die Müttersterblichkeit in jener Zeit zwischen 300 und 350 Frauen auf 100.000 Geburten (1929 sogar 550 auf 100.000) betrug und eine Schwangerschaft alles andere als das glückliche Erleben war, das wir heute selbstverständlich voraussetzen.

Zusätzlich zu dieser aus heutiger Sicht unvorstellbar hohen Zahl starb beinahe jedes vierte Kind. Wie kann es glaubhaft sein, daß unter den heutigen Bedingungen der Verhütungsmöglichkeiten irgend jemand ein solches Risiko akzeptieren würde? Das Gegenteil wäre wahrscheinlich. Es könnte geschehen, daß wir uns in einen Circulus vitiosus begeben, wenn wir infolge unterlassener Vordiagnostik das Ergebnis von entbundenen „Kindern mit Diagnose“ verschlechtern. Würde das die Anzahl der Abtreibungen mit potentiell gut heilbarer Diagnose nicht erhöhen?

Um es zuzuspitzen: Es würde denkbar, daß die Angst vor Krankheit – nicht nur für die unheilbaren Diagnosen, sondern, und das ist das Fatale, insbesondere für die heilbaren – den Wunsch nach einem Kind schon im Vorfeld völlig anders erlebbar werden läßt. Und das aus den gleichen Motivationen heraus, die auch die Abtreibungsziffern begründen.

Die Gesamtzahl der Abtreibungen in Deutschland liegt bei 102.800. Es versteht sich von selbst, daß eine solche Zahl Bedauern auslösen muß, verkörpert sie doch mehr als hunderttausendfaches Leid. Trauer um das Kind, welches nicht geboren wurde, Mitgefühl mit der Mutter, die einen solchen Schritt gehen mußte, weil sie glaubte, keine andere Möglichkeit als diese zu haben, aus Schmerz, aus Einsamkeit, vielleicht auch aus den völlig fehlgeleiteten Wertvorstellungen unserer durchmaterialisierten Welt heraus. Wo findet diese Diskussion öffentlich statt? Wogegen wird der „Wert“ eines Kindes aufgewogen?

Die Abtreibungszahl wird nicht durch die Abtreibung nach Diagnose maßgeblich beeinflußt. Wer also thematisiert in adäquatem Ausmaß die Abwertung von Kindern, wenn ein Schulhof als Lärmbelästigung gilt, wenn von Kindern nur noch als wirtschaftlichem Risiko gesprochen wird? Wahlweise auch von Rentensicherung. Aber – und das ist die moralische Crux der Sache – all das darf ein Kind eben nicht sein! Der „Wert“ eines Kindes ist und darf zuallererst nur sichtbar gewordene Liebe und Verantwortung zweier Menschen füreinander sein. Nicht mehr und nicht weniger.

Absichtlich darauf zu verzichten, optimale Informationen über den zu erwartenden Gesundheitszustand eines noch ungeborenen Kindes zu gewinnen, bedeutet, bewußt das Risiko einzugehen, die Säuglingssterblichkeit zu erhöhen.

Wie immer bei hochemotionalen Themen sind Pauschalierungen auf allen Seiten im Übermaß vorhanden. Die zu beobachtende Verdammung der Pränataldiagnostik als gewissermaßen Wegbereiter der Abtreibung ist der falsche Weg. Denn, und das wird viel zuwenig betont, die überwiegende Anzahl der Abtreibungen erfolgt bei gesunden Kindern. Bedrückend genug. Nichtsdestoweniger heißt es aber auch, daß weniger Vordiagnostik nicht gleichbedeutend mit weniger Abtreibungen ist. Und – was viel nachhaltiger von Bedeutung ist – es läßt angeborene Erkrankungen, die bei optimal adaptiertem Geburtsmanagement ganz oder überwiegend beherrschbar gewesen wären, wieder tödlich werden. Ein grausamer Gedanke, insbesondere dann, wenn zum Beispiel beim Vorliegen eines schweren Herzfehlers oder einer schweren Darm- oder Lungenfehlbildung, ein hochspezialisiertes Vorgehen kurz vor und nach der Geburt (perinatal) ein Leben – und in vielen Fällen völlig gesundes Leben – ermöglicht hätte.

Die wertvolle Zeit, und oft genug ist diese in Minuten und wenigen Stunden bemessen, die Gynäkologen, Kinderärzte und Kinderchirurgen gewinnen müssen, um einem solchen Kind einen guten Start ins Leben zu ermöglichen, wird „herausgearbeitet“ durch pränatale Diagnostik! Solange das Kind sicher im Mutterleib aufgehoben ist, ist massenhaft Zeit für Risikoeinschätzung und Therapieplanung. Wird auf diese verzichtet und verschlechtert sich der Zustand eines unbekannt kranken Kindes zunächst aus völlig unklarem Grund, geht wertvolle Zeit unwiederbringlich verloren. Wertvolle Zeit, in der eine vorbereitete Therapie längst hätte beginnen können. Diese Zeit muß nun zunächst für diagnostische Maßnahmen aufgewendet werden, gar nicht zu reden vom Zeitbedarf zum Bereitstellen der dann erforderlichen personellen und technischen ärztlichen Voraussetzungen oder gar Transportwege.

Und längst nicht immer geht es so gut aus wie im obigen Beispiel. Absichtlich darauf zu verzichten, optimale Informationen über den zu erwartenden Gesundheitszustand eines noch Ungeborenen zu gewinnen, heißt, bewußt das Risiko einzugehen, die Säuglingssterblichkeit zu erhöhen. Und hier liegt Deutschland sowieso noch hinter Schweden oder Finnland. Es ist daher wichtig, den Wunsch nach weniger Abtreibungen nicht durch Verteufelung der Vordiagnostik erfüllen zu wollen. Die Vordiagnostik ist nur eine Information. Bei vernünftigem Umgang mit ihr kann sie Leben retten. Leider ja, sie kann auch Anstoß zum Nachdenken über eine Abtreibung sein.

Vielleicht sind Kinderärzte berufsimmanent ein wenig naiver und in gewisser Weise unbeirrbar idealistisch. Aber ein „Ja zum Kind“ durch Verbot von Vordiagnostik erreichen zu wollen, hieße ein ungeborenes Leben gegen ein entbundenes krankes Neugeborenes aufwiegen zu wollen. Es muß einen anderen Weg geben.






Dr. med. Ira Austenat, Jahrgang 1971, nach Studium und Facharztausbildung in den Universitätskinderkliniken Berlin und im Deutschen Herzzentrum arbeitet sie seit 1997 als niedergelassene Kinderärztin.