© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/15 / 04. September 2015

„Der einzige, mit dem ich mich noch über alles unterhalten konnte“
Bismarcks Eckermann hieß Lothar Bucher: Vom einstigen Linken wandelte sich der preußische Jurist zum konservativen Geheimrat
Jürgen W. Schmidt

Als der schwerkranke Lothar Bucher auf einem Kururlaub in der Schweiz am 12. Oktober 1892 starb, meinte Fürst Bismarck bedrückt: „Bucher war der einzige, mit dem ich mich noch über alles unterhalten konnte, und der mich immer verstand, nun ist er mir auch noch genommen.“ Der Verstorbene hatte hugenottische Wurzeln und war am 25. Oktober 1817 im hinterpommerschen Neustettin zur Welt gekommen. Nach einem Rechtsstudium wirkte Bucher ab 1843 in der pommerschen Kreisstadt Stolp als Gerichtsassessor. 

Der Jurist verwaltete im Nebenberuf die Patrimonialgerichte einiger pommerscher Adelsfamilien und machte Erfahrungen mit der sozialen Praxis in Preußen, welche den gerechtigkeitsliebenden jungen Mann zum überzeugten Linken werden ließen. In Stolp schlugen bei Ausbruch der Märzrevolution 1848 die Wogen hoch, und gemeinsam mit dem Stolper Kreischirurgus Louis Bauer gründete Lothar Bucher einen „Volksverein“, um liberale und demokratische Ideen zu propagieren. 

Als man Bucher vor die Wahl stellte, entweder für die Frankfurter Nationalversammlung zu kandidieren oder aber für das preußische Abgeordnetenhaus, zog er letzteres vor. Die künftigen Geschicke Preußens interessierten ihn viel mehr als die Luftschlösser, welche man in Frankfurt zu erbauen beabsichtigte. In Stolp trat Bucher in die Bürgergarde ein, wo man ihn sehr um seine hübsche gezogene Büchse beneidete. Noch mehr Beachtung erwarb sich Bucher jedoch im preußischen Abgeordnetenhaus in Berlin, wo er weit links stand und am 26. April 1849 in seiner wirkungsmächtigsten Rede die Aufhebung des Belagerungszustandes in Preußen im Parlament durchsetzte. Doch waren die Tage der Demokraten in Preußen gezählt und weil Bucher zur Steuerverweigerung und notfalls sogar zum bewaffneten Widerstand gegen den preußischen Staat aufgerufen hatte, ermittelte man wegen Hochverrats gegen ihn. Das Urteil vom 21. Februar 1850 lautete auf Verlust aller Ämter und fünfzehn Monate Festungshaft, woraufhin sich Bucher der Vollstreckung durch Flucht nach England entzog. 

Im Exil ernährte er sich notdürftig durch Stundengeben und später als Auslandskorrespondent für deutsche Zeitungen. Gerade letztere Beschäftigung führte dazu, daß Lothar Bucher viel von seiner ursprünglichen Begeisterung für die englische Demokratie und Presse verlor und sich konservativen Positionen annäherte. Nach einer politischen Amnestie 1861 war es Bucher möglich, wieder straflos nach Preußen zurückzukehren und er fand beim damals aufblühenden „Wolffschen Telegraphenbüro“, einer Presseagentur, Beschäftigung. Im Sommer 1861 lernte er in Berlin Ferdinand Lassalle kennen, mit dem ihn schnell eine enge Freundschaft verband. 

Noch jemand wurde in dieser Zeit auf ihn aufmerksam, nämlich Otto von Bismarck. Bismarck erkannte Buchers großes politisches und journalistisches Geschick, er erkannte aber auch, daß sich der einstige „Linke“ aus Überzeugung politisch in seine eigene Richtung wendete. Bismarck gab nun, erstaunlich liberal denkend, dem früheren Revolutionär eine neue Chance, welche Bucher annahm. Zur großen Überraschung der preußischen Öffentlichkeit zog Lothar Bucher 1864 als Beamter ins Auswärtige Amt ein, wo er ab sofort für Pressefragen zuständig war. 

Schon zwei Jahre später führte Bucher den hohen amtlichen Titel „Vortragender Rat“ und hatte sich durch sein diskretes Wirken das volle Vertrauen Bismarcks erworben. Ganz gleich ob es um die verwickelte schleswig-holsteinische Frage, die Verfassung des Norddeutschen Bundes oder die spanische Thronkandidatur eines Hohenzollern ging, immer wirkte Bucher klug zum Nutzen des preußischen Staates und zum Nutzen Bismarcks. Einen allerletzten persönlichen Dienst erwies Bu-cher dem Fürsten, als er ab 1890 den aus dem Amt geschiedenen Bismarck immer aufs neue zum Diktat seiner Memoiren drängte und sich dazu als Privatsekretär anbot. Von Bucher sorgfältig redigiert, sind diese unter dem Titel „Gedanken und Erinnerungen“ erschienen.