© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/15 / 04. September 2015

Ein sensibler Temperamentsbolzen
Franz Josef Strauß zum hundersten Geburtstag: Horst Möller porträtiert den Konservativen neuen Typs
Gernot Facius

Was war er denn nun: ein nicht zu zügelnder Wort-Berserker, ein „Kraftwerk, dessen Turbinen 100 Megawatt zu leisten vermögen, das aber nur mit Sicherungen für drei Stallaternen ausgestattet ist“ (Hans-Jochen Vogel) oder doch eher ein Mensch in seinem Widerspruch, „kein ausgeklügelt Buch“, wie Franz Josef Strauß sich unter Berufung auf Conrad Ferdinand Meyer charakterisierte? 

Eine Biographie der CSU-Legende, die zu den prägenden Gestalten der alten Bundesrepublik gehörte, wird auch auf 730, samt dem Anmerkungsapparat gar 828 Seiten, das Rätselhafte dieses politischen Phänomens nicht voll erfassen. Der Autor Horst Möller sagt es: Man könnte eigentlich mehr als zwanzig Bücher über den Temperamentsbolzen schreiben, dessen Geburtstag sich am 6. September zum 100. Mal jährt, ohne ihn damit zu erschöpfen. 

Der Zeithistoriker (Jahrgang 1943) hat sich deshalb auf eine wissenschaftliche Biographie des mehrmaligen Bundesministers und bayerischen Ministerpräsidenten beschränkt. Sie liest sich nicht süffig wie ein Helden-Roman, im Fokus steht das Denken und Handeln von Strauß „unter den Voraussetzungen seiner Zeit, nicht der unseren“, wobei er das unruhige Privatleben des Barockmenschen ebensowenig ausspart wie die Spiegel-Affäre, an deren Ende die Magazin-Redakteure nicht wegen erwiesener Unschuld freigesprochen wurden, „sondern aus Mangel an Beweisen“. 

Deutsche Teilung mit Europas Einigung heilen

Aber er zeichnet nicht ein Lebensbild im vordergründigen Sinn. Das nehmen ihm Rezensenten übel, die sich an tatsächlichen oder vermeintlichen Skandalen delektieren und von einer lang geratenen Apologie sprechen. Möller hingegen hat sich durch den schriftlichen Nachlaß seines Protagonisten, mehr als 300 Regalmeter, gearbeitet und auch auf die 1989 erschienenen, im Mai 2015 neu aufgelegten „Erinnerungen“ des CSU-Urgesteins zurückgegriffen, zu denen er ein Nachwort geschrieben hat. Das ergibt eine andere Perspektive. 

Möllers Strauß ist der Weltpolitiker, der mit Mao, Honecker und Gorbatschow konferiert, ein Konservativer neuen Typs, der sich bereits in den sechziger Jahren vom Nationalstaat verabschiedet hat: „Die deutsche Spaltung kann nur in der Heilung der europäischen Teilung überwunden werden.“ Aus diversen, vagen Andeutungen schließt Möller, daß Adenauers ehemaliger Verteidigungsminister nicht einmal die Nato-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands als zwingend erachtete. Zur Lösung der Deutschen Frage habe Strauß ein europäisch-amerikanisches Bündnis für eine Alternative gehalten, sie wäre für die Sowjetunion „eher akzeptabel gewesen als die bestehende integrierte Nato-Verteidigung“. 

Daß es in den späten sechziger Jahren wirklich eine grundlegende Differenz zwischen der Deutschland- und Ostpolitik von Strauß und Willy Brandt gegeben habe, wie später der Streit um die „neue“ Ostpolitik der SPD/FDP-Koalition suggerierte, zieht Möller in Zweifel: „Auch die Position von Franz Josef Strauß war in bezug auf die Methoden der Wiedervereinigungspolitik sowie die Etappen nicht klar festgelegt und nicht widerspruchsfrei.“ Er hielt es wie Bismarck: „Der Staatsmann gleicht einem Wanderer im Walde, der die Richtung seines Marsches kennt, aber nicht den Punkt, aus dem er aus dem Forst heraustreten wird.“ 

Jedenfalls hat der CSU-Vorsitzende in seinen „Erinnerungen“ Wert darauf gelegt, gegen die Mehrheit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und starke Bedenken in der eigenen Partei die bayerische Staatsregierung im Jahr 1973 zur Verfassungsklage gegen den Grundlagenvertrag mit der DDR gezwungen zu haben. Trotz der dem Vertrag bescheinigten Verfassungskonformität handelte es sich, so Möller, um einen „großen Erfolg“ von Strauß: Die Deutsche Frage blieb weiter offen. 

Der in Absprache mit Helmut Kohl 1983 eingefädelte Milliardenkredit an die marode DDR war die wohl spektakulärste Aktion des notorischen Antikommunisten, Parteifreunde wie politische Gegner zeigten sich entsetzt. Bei seiner Wiederwahl als CSU-Chef erhielt Strauß am 17. Juli 1983 die niedrigste Stimmenzahl seiner 27jährigen Amtszeit: 77 Prozent. Er habe „manche Schwerfälligkeit in der CSU nicht richtig eingeschätzt“, klagte der Krediteinfädler. Gleichwohl duckte er sich nicht: Ein Politiker werde in seiner Handlungsfähigkeit erheblich begrenzt, wenn er vor einer wichtigen Entscheidung diese auf breiter Ebene diskutieren „und möglichst noch durch eine Meinungsumfrage in der Öffentlichkeit absegnen lassen soll“. 

Strauß war letztlich ein politischer Pragmatiker

Hatte der Bayer eine Wende in seiner Deutschlandpolitik vollzogen? Eher nicht. Für Theo Waigel zum Beispiel hatte die Kreditinitiative nichts von einem Coup. Im Gegenteil, der CSU-Landesgruppenchef und spätere Bundesfinanzminister von Helmut Kohl sah eine Kontinuität des Denkens bei seinem Vorsitzenden, der bereits in den sechziger Jahren die Idee einer Milliardenzahlung an die UdSSR ins Gespräch gebracht hatte, damit sich Moskau aus der DDR zurückziehe. 

Strauß suchte eben alle Verhandlungsmöglichkeiten auszuloten, da war er Pragmatiker. Seine Kanzlerkandidatur 1980, zu der man ihn regelrecht habe drängen müssen, wie engste Mitarbeiter erzählen, wird noch immer einseitig unter dem Aspekt des Scheiterns betrachtet. Dabei hatten sich tatsächlich 600.000 Wähler mehr für Strauß entschieden als für den Amtsinhaber, Helmut Schmidt (SPD). Wahlsieger war eher die deutlich gestärkte FDP. Zwei Jahre später koalierte sie mit der CDU/CSU. 

Das persönliche Verhältnis der beiden „Giganten“ von 1980 hatte unter dem scharfen Wahlkampf nicht gelitten – „dies war ein Zeichen politischer Kultur“ (Möller). Schmidt und Strauß haben sich des öfteren sowohl im Kanzleramt als auch in der Münchner Staatskanzlei getroffen und, wie Schmidt berichtet, viel voneinander gelernt. Denn es gab nicht nur den Polterer und Polarisierer. „Ich habe Strauß im persönlichen Gespräch aufgeschlossen, sensibel, informiert und gesprächsfähig empfunden“, bestätigt Egon Bahr (SPD). 

Wäre ein Politiker, der wie der Bayer so wenig Rücksicht auf Stimmungen und die Bedingungen einer Mediengesellschaft nimmt, heute überhaupt möglich? Das ist auch für seinen Biographen eine spannende Frage. Die Antwort überläßt er weitgehend den Lesern. Möller: „Strauß als demokratischer Politiker wußte, ein Kompromiß ist in einer Demokratie wesensnotwendig. Aber für ihn stand der Kompromiß am Ende, und am Anfang stand die offene Debatte. (...) Er hatte eine andere Auffassung von politischer Kultur, als die, die heute dominiert. (...) Er würde vieles an seinem Politikstil ändern müssen, aber auf der anderen Seite würde er vieles in die heutige Politik einbringen, was ihr fehlt.“

Horst Möller: Franz Josef Strauß. Herrscher und Rebell. Piper Verlag, München 2015, gebunden, 828 Seiten, Abbildungen, 39,99 Euro

Franz Josef Strauß: Die Erinnerungen. Pantheon Verlag, München 2015, broschiert, 720 Seiten, 18,99 Euro