© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/15 / 04. September 2015

Knapp daneben
Thoraks Trojanisches Pferd
Karl Heinzen

Das Landschulheim Ising am Chiemsee sitzt auf der Anklagebank. Ausnahmsweise geht es nicht um Kindesmißbrauch, dessen sich Reformpädagogen schuldig gemacht haben. Die Vorwürfe wiegen dennoch nicht minder schwer. Seit mehr als fünfzig Jahren, so kam erst jetzt ans Licht, steht an diesem, so die Süddeutsche, „sensiblen öffentlichen Ort“ ohne jeglichen Warnhinweis ein etwas debil blickendes, mehr als drei Meter hohes Bronzepferd, das ein Bildhauer namens Josef Thorak geschaffen haben soll. Dieser Josef Thorak ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten, in der NS-Zeit soll er jedoch eine große Hausnummer gewesen sein, die insbesondere das Spießerherz des Obersalzberghausherrn erfreute. Kunsthistoriker, die um seine ästhetische Einordnung ringen, charakterisieren ihn gern als den „Jeff Koons des Dritten Reiches“.

Vielleicht wird man vom Erlös der Bildhauer- arbeit einen „Grillabend der Kulturen“ finanzieren.

Das Rätsel, wie das Ungetüm an den Chiemsee gelangen konnte, ist zwar gelöst: Die Familie Thorak hat offenbar dem Heim diese Sachleistung anstatt fälliger Internatsgebühren untergejubelt. Die Frage, wie der Skandal so lange unentdeckt bleiben konnte, steht aber weiterhin im Raum. Eine Antwort lautet sicher: Es handelt sich um ein Trojanisches Pferd, dem man seinen gefährlichen Inhalt nicht auf Anhieb ansieht. Trüge es einen Reiter in verdächtiger Uniform oder wenigstens einen mit einschlägigen Zeichen verzierten Sattel, wäre alles klar. So muß man aber schon ein Experte sein, um zu erkennen, daß es nicht auf Winnetou wartet.

Da das dunkle Geheimnis des Pferdes gelüftet wurde, ist seine subversive Macht erloschen. Vielleicht werden Aktionskünstler es rituell schlachten. Vielleicht wird man es an einen Schrotthändler verkaufen und vom Erlös einen „Grillabend der Kulturen“ finanzieren. Sorgen muß man sich jedoch um das Wohl all der Kinder, die ihm in einem halben Jahrhundert ausgesetzt waren. Wie viele arglose Mädchen mag das Pferd so stark in seinen Bann gezogen haben, daß sie fortan mit Hakenkreuzen vor den Augen zu ihren Reitbeteiligungen marschierten. Eine Kommission aus Historikern, Psychologen und Ethikern sollte sich ihres Schicksals annehmen.