© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/15 / 11. September 2015

Irrtum hat Methode
Abtreibung und Absolution: Wie deutsche Medien den Papst wieder mißverstehen
Gernot Facius

Papst Franziskus sprach Klartext. Abtreibung geißelte er als Teil einer Wegwerfkultur. Sie sei niemals eine Hilfe für Frauen. Das menschliche Leben sei immer heilig, wertvoll und unverletzlich. Es müsse geliebt, verteidigt und gepflegt werden – deshalb dürfe niemand erwarten, daß die Kirche ihre Haltung zu dieser Frage ändere. So lauteten Kernaussagen des Pontifex vor Diplomaten und Ärzten, einige Monate nach seiner Wahl im Frühjahr 2013. 

Jetzt hat Franziskus alle Priester bevollmächtigt, im heiligen Jahr der Barmherzigkeit – vom Advent 2015 bis zum Advent 2016 – von der Sünde der Abtreibung jene loszusprechen, die reuigen Herzens dafür um Vergebung bitten. Doch wie es scheint, ist der Jesuit auf dem Stuhle Petri wie wenige seiner Vorgänger groben Mißverständnissen ausgesetzt. Schlagzeilen deutscher Gazetten, die jedes Wort des Argentiniers auf Spuren einer Kursänderung untersuchen, suggerierten eine Aufweichung tradierter ethischer und kirchenrechtlicher Positionen, nach denen Abtreibung ein verabscheuungswürdiges Verbrechen ist. 

„Papst erlaubt Abtreibung“ stand vorübergehend, unglaublich aber wahr, im ZDF-Videotext. Renommierte Zeitungen titelten: „Vergebung von Abtreibung erlaubt. Der Papst öffnet die Kirche weiter.“ Kommentatoren sprachen von einer, wenn auch kleinen, „vatikanischen Revolution“. Ein medialer GAU für die Kirche, und erst recht für das Nachrichten- und Meinungsgewerbe. Denn bei genauer Lektüre des Erlasses reduziert sich das vermeintlich Revolutionäre auf die Ausdehnung eines vereinfachten Verfahrens, wie es zum Beispiel in Deutschland seit langem praktiziert wird, auf die übrigen Teile der katholischen Weltkirche. 

Zum Hintergrund: Wer, wie im Fall einer Abtreibung, mit der Tatstrafe der Exkommunikation belegt ist, steht nicht mehr in der Gemeinschaft der Kirche, er ist vom Empfang der Sakramente ausgeschlossen. Bevor dies wieder möglich ist, muß die Exkommunikation aufgehoben werden. Im „Normalfall“ kann die Absolution nur der zuständige Bischof oder ein von ihm beauftragter Kleriker erteilen. Dieser Kreis wird nun ausgeweitet, wenn auch zunächst nur für ein Jahr. Das ist die einzige Neuerung. Da elementare Katechismus-Kenntnisse heute nicht mehr vorausgesetzt werden können, kam es zu wirren Interpretationen. 

Unerwähnt blieb meist die Klage des Papstes über den Verlust der persönlich und gesellschaftlich geschuldeten Sensibilität gegenüber der Annahme eines neuen Lebens: „Das Drama der Abtreibung wird von manchen mit einem oberflächlichen Bewußtsein erlebt, so daß sie sich über das schwerwiegende Übel, das ein solcher Akt mit sich bringt, fast nicht im klaren sind.“ Konkret: Franziskus möchte sich nicht damit abfinden, daß Schwangerschaftsabbrüche heute zunehmend als eine gesellschaftlich akzeptierte Form der Geburtenkontrolle gelten. Deshalb solidarisierte er sich kürzlich öffentlichkeitswirksam mit dem „Marsch für das Leben“‚, der am 19. September in Berlin stattfinden wird. Hier setzt er einen Kontrapunkt zu protestantischen Landeskirchen, die vor rot-grünen und linksliberalen Positionen kapituliert haben. 

Hier offenbart sich in aller Öffentlichkeit eine andere, bislang wenig bekannte Form von Ökumene: Es gibt beim Lebensschutz mehr römische Übereinstimmung mit Gruppen des evangelikalen, freikirchlichen Spektrums als mit Gliedkirchen der EKD. Andererseits verschließt der Papst nicht die Augen vor Gewissenskonflikten, er hat einen pastoralen Blick auf Frauen, die eine Abtreibung hinter sich haben. Es gehört zur katholischen Lehre, Gläubigen, die etwas aufrichtig bereuen, die Versöhnung nicht zu versagen. Barmherzigkeit ist das Leitmotiv dieses Pontifikats. 

So verwundert es nicht, daß Franziskus das heilige Jahr zum Anlaß nimmt, auch in Richtung der Pius-Priesterbruderschaft ein Zeichen zu setzen. Bei den Pius-Brüdern, die viele schon als „Trolle der katholischen Kirche aus ihren ‘rationalen Diskursen’ aussortiert hatten“ (Die Tagespost), dürfen Katholiken im Jahr der Versöhnung gültig und erlaubt beichten. Mehr noch, das Kirchenoberhaupt weckt neue Hoffnungen auf eine Verständigung mit der als fundamentalistisch und antiökumenisch verschrieenen Gemeinschaft. „Das Jubiläum schließt niemanden aus.“ 

Daß das manche Bischöfe und Vertreter der katholischen Laien erschreckt, liegt auf der Hand. Der deutsche Episkopat sieht der Bischofssynode zu Ehe und Familie vom 4. bis 25. Oktober nicht ohne Bangen entgegen. Im Vatikan wurde nicht erst gestern registriert, daß in Deutschland Glaubenslehre und Glaubenspraxis auseinanderklaffen, vor allem in Fragen der Ehe- und Sexualmoral, im kirchlichen Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen, die vom Empfang der Kommunion ausgeschlossen sind, und mit Homosexuellen. 

Franziskus’ deutscher Glaubenspräfekt, Kardinal Gerhard Ludwig Müller, hat Überlegungen zu einer Weiterentwicklung des Offenbarungsverständnisses im Sinne einer Anerkennung der „Lebenswirklichkeit“, wie sie von Bischöfen und Theologen immer wieder angestellt werden, öffentlich abgelehnt; er erkennt sogar Anzeichen einer Kirchenspaltung in seiner Heimat. So wird die bevorstehende Synode in Rom zu einer historischen Etappe der katholischen Kirche. Die Beteiligten können debattieren und Empfehlungen aussprechen. Doch die kirchliche Lehre vermag die Synode nicht zu ändern. Die Vollmacht dazu haben allein der Papst oder ein Konzil. Die Einberufung eines Konzils, einer Versammlung aller Bischöfe der Weltkirche, durch Papst Franziskus gilt als nahezu ausgeschlossen.