© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/15 / 11. September 2015

Bloß nicht richtig krank werden
Berufsunfähigkeit: Weder die gesetzliche noch private Versicherungen helfen oftmals weiter
Peter Offermann

Seine Kanzlerschaft verdankte Gerhard Schröder unter anderem dem Versprechen, die „unsoziale Rentenreform“ der Kohl-Regierung wieder rückgängig zu machen. Noch in seiner Regierungserklärung am 10. November 1998 versprach der SPD-Politiker allen, die in die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) einzahlen, „daß sie damit einen wirksamen und leistungsgerechten Rentenanspruch erwerben“.

Das Versprechen hielt keine zwei Jahre – nach dem Motto: „Wir werden nicht alles anders machen, aber vieles besser“. Den „bereits in Rente lebenden Menschen“ wurden „ihre ohnehin oft geringen Einkünfte“ zwar nicht direkt gekürzt – doch seither wächst die finanzielle Not bei Rentnern stetig. Anfang dieses Jahres bezogen 511.915 von ihnen „Leistungen der Grundsicherung im Alter nach dem 4. Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch“ wie es im Amtsdeutsch heißt. Das waren zwar nur drei Prozent der Altersrentner – aber vor zehn Jahren waren es mit 342.855 Betroffenen noch ein Drittel weniger, bei denen die Altersbezüge – einschließlich der privaten Vorsorge und Ersparnisse – nicht zum Leben reichten. Für 2025 werden 1,5 Millionen Grundsicherungsempfänger prognostiziert.

Schon jetzt dramatisch ist die Lage bei allen, die keine Beamten sind und gesundheitsbedingt in Frührente müssen: Seit 2005 hat sich die Zahl derjenigen, die „Grundsicherung wegen dauerhaft voller Erwerbsminderung“ beziehen, von 287.440 um 40 Prozent auf 482.743 erhöht. Das waren über 27 Prozent aller Frührentner. Wie viele zudem wegen nur teilweiser Erwerbsminderung in Hartz IV gelandet sind, geht aus den Statistiken nicht hervor. Auf jeden Fall werden künftig immer mehr dauerhaft Kranke zu Sozialfällen, denn das rot-grüne Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ist unerbittlich: Seit 2001 gibt es Berufsunfähigkeitsrenten nur noch für die, die vor dem 2. Januar 1961 geboren sind.

Auch wer so stark geschädigt ist, daß er Anspruch auf die volle Erwerbsminderungsrente hat, ist nicht aus dem Schneider: Die Durchschnittsrente stieg zwar 2014 durch das RV-Leistungsverbesserungsgesetz von 650 auf etwa 700 Euro – doch mehr als 30 Prozent des letzten Bruttoeinkommens sind in der Regel kaum zu erwarten. Und weniger als 60 Prozent der Rentenanträge werden überhaupt positiv beschieden. Die einzige Alternative heißt private Berufsunfähigkeitsversicherung (BUV). Doch nur jeder fünfte Erwerbstätige besitzt diesen existentiellen Schutz. 

Körperlich Abeitende sind dabei doppelt hart betroffen: Einerseits können sie von der GRV beispielsweise formal auf kaufmännische Tätigkeiten verwiesen werden – auch wenn der Arbeitsmarkt in der Büro-Praxis kaum Bedarf an ehemaligen Dachdeckern hat. Gleichzeitig ist eine private BUV wegen der erwartbar hohen Leistungsquote sehr teuer. So schaffen es beispielsweise nicht einmal zwei Drittel aller Maurer, bis zum regulären Renteneintritt zu arbeiten.

Verloren im privaten Versicherungstarifdschungel

Doch erst wer nicht mehr in der Lage ist, irgendeiner Beschäftigung mindestens drei Stunden täglich nachzugehen, erhält überhaupt die volle Erwerbsminderungsrente (EM-Rente). Wer theoretisch zwischen drei und sechs Stunden täglich arbeiten könnte, erhält nur eine eher symbolische Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung. Das Risiko berufsunfähig zu werden, wird oft unterschätzt. Pro Jahr gehen bei der GRV etwa 350.000 EM-Anträge ein. Statistisch betrachtet wird jeder dritte Arbeiter und jeder vierte Arbeitnehmer einmal in seinem Leben zumindest für einen gewissen Zeitraum berufsunfähig. Auch Akademiker oder Büroangestellte müssen sich Sorgen machen: für sie gilt ebenfalls die „abstrakte Verweisung“. Die GRV benennt nur noch Leistungseinschränkungen (nur sitzen, kein schweres Tragen), es muß keine konkrete Alternativbeschäftigung mehr genannt werden.

Für Juristen mag es eine Fleißaufgabe sein, die richtige BUV auszuwählen, die meisten verzweifeln aber im Versicherungstarifdschungel. Durchgängig gute Bedingungen weisen die wenigsten BUV-Tarife auf. Auch bei den Kosten herrschen enorme Unterschiede. Allerdings darf der Beitrag nicht das Hauptkriterium sein. Eine BUV soll den Lebensstandard absichern. Am wichtigsten ist es, einen Tarif zu wählen, der keinerlei Verweisung auf andere Berufe vorsieht. Einzig der im Antrag angegebene Beruf sollte bei der Leistungsprüfung des Versicherers in Betracht gezogen werden. Beim Prognosezeitraum haben viele Versicherer eingelenkt. Die meisten zahlen inzwischen, wenn eine BU-Mindestdauer von sechs Monaten vorliegt.

Vorerkrankungen bleiben heikel. Was bei manchen Assekuranzen zu einem Ausschluß oder gar einer Ablehnung des BUV-Antrags führt, ist bei anderen versicherbar – gegen eine erhöhte Prämie. Dies ist jedoch Leistungsausschlüssen vorzuziehen. Gesundheitsangaben müssen wahrheitsgemäß beantwortet werden – wer bei der vorvertraglichen Anzeigepflicht schummelt, zahlt letztlich umsonst. Selbst wer in jungen Jahren nur ein paarmal beim Psychologen war,  muß damit rechnen, daß er bezüglich psychischer Erkrankungen kaum mehr versicherbar ist. Wer sich schon als Lehrling oder Student für weit unter 100 Euro versichert, hat in der Regel wenig Ärger mit der Gesundheitsprüfung.

Und er spart Geld: Ein Elektromeister zahlt für monatlich 2.500 BU-Rente bei einem Eintrittsalter von 25 Jahren beispielsweise 170 Euro netto, mit 35 sind es 200 Euro und mit 45 schon 260 Euro monatlich. Mit 55 wären es 360 Euro – für gerade mal zwölf Versicherungsjahre. Wer sich das nicht leisten kann oder wer aus einem schlechten Tarif wegen Vorerkrankungen nicht heraus kann, sollte sich an Schröders Agenda-Motto „Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem einzelnen abfordern“ erinnern und sich damit trösten, daß eben nicht jeder den „gewaltigen gemeinsamen Anstrengungen“ (Schröder) oder den „nationalen Aufgaben“ (Merkel) der jeweiligen Bundeskanzler gewachsen ist.

Merkblatt Berufsunfähigkeitsversicherung:  bundderversicherten.de