© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/15 / 11. September 2015

Dem Seelöwen wurden die Zähne gezogen
Vor 75 Jahren brach Hitler die Vorbereitungen für die Landung in Großbritannien ab / Ohne Luft- und Seeherrschaft drohte ein blutiges Scheitern
Wolfgang Kaufmann

Am 17. September 1940 verkündete Hitler im Beisein von Reichsmarschall Hermann Göring und Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt, er habe sich entschlossen, das Unternehmen „Seelöwe“, also die Landung auf der britischen Hauptinsel, „bis auf weiteres“ zu verschieben. Damit blies der Diktator erstmals eine geplante Invasion ab, denn aus der Zurückstellung des Angriffs wurde in der Folgezeit sukzessive die endgültige Stornierung. 

Für den weiteren Kriegsverlauf war diese Entscheidung von zentraler Bedeutung, denn mit dem Ende der akuten Invasionsgefahr konnten die Briten, die durch ihre Funkaufklärung jederzeit genau im Bilde waren, deutlich mehr Land- und Seestreitkräfte ins Mittelmeer und nach Nordafrika verlagern als bisher. Zudem hatte sich mit dem Verzicht auf die Landung in England auch der Sprung nach Irland („Fall Grün“) und Island („Unternehmen Ikarus“) erledigt – mit fatalen Folgen für die spätere Seekriegführung im Nordatlantik.

Aufklärung durch Spione endete in einem Fiasko

Als Hitler beschloß, seine Invasionsflotte zurückzuhalten, die eigentlich am 24. September auslaufen sollte, war die Führerweisung Nr. 16 an alle Stäbe von Wehrmacht, Luftwaffe und Kriegsmarine, „eine Landungsoperation gegen England vorzubereiten“, gerade einmal zwei Monate alt. Trotzdem stand die Zusammenziehung der insgesamt 4.263 Seefahrzeuge, mit denen 25 Divisionen der Heeresgruppe A unter von Rundstedt über den Ärmelkanal setzen sollten, bereits unmittelbar vor dem Abschluß. Das legt natürlich die Frage nach den Ursachen des plötzlichen Stimmungsumschwungs Hitlers nahe. Die gängige Antwort hierauf lautet, die Niederlage in der Luftschlacht um England sei ausschlaggebend gewesen. Und tatsächlich hatte die deutsche Luftwaffe zwischen dem 10. Juli und dem 17. September 1940 schon weit über 1.000 Maschinen eingebüßt; bis zum 1. November sollten dann insgesamt 1.733 Flugzeuge verlorengehen. Damit bestand keine Kontrolle über den Luftraum im geplanten Operationsgebiet. 

Des weiteren wird auch auf das offenkundige Unvermögen der Kriegsmarine verwiesen, die Invasionsflotte gegen Attacken der übermächtigen Royal Navy zu schützen. Der „Führerbefehl“ lautete nämlich, nicht an einer, mit den vorhandenen Kräften möglicherweise noch einigermaßen abzusichernden, Stelle anzugreifen, sondern in einem 140 Kilometer breiten Korridor zwischen Folkestone und Eastbourne. Manche Historiker vertreten zudem die Ansicht, daß Hitler die Landung in England letztlich gar nicht gewollt habe – schließlich sei es ihm vor allem darum gegangen, Lebensraum im Osten zu erobern. Angesichts dessen wäre das Unternehmen „Seelöwe“ dann kontraproduktiv gewesen, denn jede weitere extensive Inanspruchnahme der Wehrmacht im Westen hätte Stalins Möglichkeiten verbessert, seine Positionen in Osteuropa auszubauen.

Zu diesen Erklärungen gesellt sich nun noch eine neue These, welche auf das Scheitern der Operation „Lena“ Bezug nimmt. Deren Ziel bestand in der Entsendung von Spionen, die in den vorgesehenen Landungsräumen Aufklärung betreiben sollten. Allerdings flogen die in England abgesetzten 27 Männer und Frauen samt und sonders auf, was an ihrer völligen Nichteignung lag. Und das wiederum wird nun auf gezielte Machinationen seitens der Hamburger Abwehrstelle unter Kapitän zur See Herbert Wichmann zurückgeführt: Die Kriegs- und Regimegegner innerhalb des Geheimdienstes der Wehrmacht hätten ganz bewußt Leute ohne ausreichende Sprach- und Landeskenntnisse losgeschickt, um das Unternehmen „Seelöwe“ zu sabotieren. Allerdings sprechen aktuelle Befunde gegen die Annahme, daß der deutsche Widerstand den Sprung nach England verhindert habe, so zum Beispiel die von Winfried Meyer. Aus dessen akribischer Rekonstruktion der Aktivitäten des jüdischen Abwehragenten „Klatt“ alias Richard Kauder geht hervor, wie extrem dilettantisch die Abwehr vielfach agierte, was die Vermutung nahelegt, daß keine Absicht hinter dem Scheitern von „Lena“ stand. Zudem ist höchst fraglich, ob die Wehrmacht tatsächlich auf die Berichte der Agenten angewiesen war.