© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/15 / 11. September 2015

Ungeschminkt aus der Produktion
Bitterfelder Abwege: Siegfried Pitschmanns verschollener Roman über das triste Arbeitsleben in der DDR ohne die übliche sozialistische Schönrednerei
Jörg Bernhard Bilke

Das nach 1959 verschollene Buch „Erziehung eines Helden“ von Siegfried Pitschmann ist das vorerst letzte Zeugnis einer bis heute nicht abgeschlossenen DDR-Literatur, deren politischer Rahmen im Herbst 1989 weggesprengt wurde. Sein Verfasser, der 1930 im schlesischen Grünberg geborene, nach der Flucht aber im thüringischen Mühlhausen aufgewachsene Siegfried Pitschmann, gelernter Uhrmacher, ist 1957/58 für ein halbes Jahr nach Hoyerswerda gezogen, um am Aufbau des 1955 gegründeten Industriekombinats „Schwarze Pumpe“ mitzuarbeiten. 

Als er Anfang 1959 im Schriftstellerheim „Friedrich Wolf“ am Schwielowsee, wo er seine spätere Frau Brigitte Reimann kennenlernte, niederschrieb, was er in „Schwarze Pumpe“ unter den Arbeitern erlebt hatte, konnte er nicht ahnen, daß ihm seine nüchtern-realistische Schreibweise zum Verhängnis werden würde. Sein Manuskript durfte in der DDR nicht veröffentlicht werden.

Denn nur wenige Wochen später, am 24. April 1959, fand im Kulturpalast des „Elektrochemischen Kombinats“ in Bitterfeld eine Literaturkonferenz statt, auf welcher der zweimal mit dem „Nationalpreis“ ausgezeichnete Schriftsteller und Verbandsfunktionär Erwin Strittmatter eine richtungsweisende Rede hielt, die darauf unter dem Titel „An die Basis – gegen die Selbstzufriedenheit“ in der SED-Zeitung Neues Deutschland nachzulesen war. Hier wurden, als Kampf gegen die „harte Schreibweise“ getarnt, die ideologischen Wegweiser für eine künftige Literatur aufgestellt, wobei Strittmatter als abschreckendes Beispiel das Manuskript des jungen Kollegen anführte, ohne freilich dessen Namen zu nennen. 

Es ist die Geschichte eines Kaffeehauspianisten, der sich nach einer gescheiterten Liebesbeziehung als Bauarbeiter in „Schwarze Pumpe“ verdingt und schließlich in zermürbenden Zwölf-Stunden-Schichten eingesetzt wird. In diesen sieben Kapiteln sind hervorragende Schilderungen zu finden, die von der vorzüglichen Beobachtungsgabe des Autors zeugen. Von der angeblich amerikanischen Autoren nachempfundenen „harten Schreibweise“ ist nichts zu spüren, allerdings wird auch kaum von Sozialismus und Planerfüllung gesprochen.

DDR-Arbeitswelten ohne klassenbewußte Werktätige

Auch von angeblichen „Radaubrüdern, Säufern, Glücksrittern“ oder „von solchen Arbeitern, die ihre Kräfte um der dicken Lohntüte willen verdoppeln und verdreifachen“, ist hier nichts zu lesen. Das waren Erfindungen Erwin Strittmatters, der in „Schwarze Pumpe“ schmerzlich die „klassenbewußten Arbeiter“ vermißte: Es gab sie nicht! So entwertete er in seiner Bitterfelder Philippika ununterbrochen ein Manuskript, das er nie gelesen hatte: „Die Menschen, die hier arbeiten, werden als ständig betrunken, geldgierig und ohne moralischen Halt geschildert. (...) Zu den großartigen Leistungen, wie sie täglich beim Aufbau des Sozialismus vollbracht werden, befähigt unsere Arbeiter nicht die Geldgier, sondern ihr Bewußtsein.“

Als Siegfried Pitschmann 1960 noch einmal, jetzt mit Brigitte Reimann, für vier Jahre nach Hoyerswerda zog, lernten sie dort die harte, ideologisch ungeschminkte Realität an der „ökonomischen Basis“ kennen. Diese verstörende Erfahrung machten alle DDR-Autoren, die freudig den „Bitterfelder Weg“ einschlugen, der nach dem Mauerbau von 1961 in eine ganz andere Richtung lief. Brigitte Reimann veröffentlichte, um sich diesen Widerspruch zu erklären, unter dem Titel „Entdeckung einer schlichten Wahrheit“ im Neuen Deutschland vom 8. Dezember 1962 einen „Offenen Brief“, worin sie alle Erfahrungen bestätigte, die Siegfried Pitschmann schon 1958 gemacht hatte.

Nach einem Selbstmordversuch in Burg bei Magdeburg 1959, wo Brigitte Reimanns Eltern lebten, ließ Siegfried Pitschmann das Manuskript unvollendet liegen, es wurde 2014 im Literaturzentrum Neubrandenburg aufgefunden. Noch Jahrzehnte später hat er der Weimarer Pfarrerin Marie-Elisabeth Lüdde berichtet, wie im Vorstand des Berliner Schriftstellerverbands mit ihm umgegangen wurde: „Es war ein entsetzliches Abschlachten, ein Strafgericht. Für mich war in dieser einen Stunde alles aus. Etwas in mir zerbrach. Siegfried Pitschmann starb 2002 in Suhl.

Siegfried Pitschmann: Erziehung eines Helden. Roman. Mit einem Nachwort von Kristina Stella. Aisthesis-Verlag, Bielefeld 2015, gebunden, 256 Seiten, 19,95 Euro