© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/15 / 11. September 2015

Wo der stille Hunger die Weichen stellt
Bangladesch: Heidelberger Mediziner erforschen die Mangelernährung
Helmut Jahn

Die 1962 in der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg gegründete Abteilung für Tropenhygiene und Öffentliches Gesundheitswesen firmiert heute als Institute of Public Health und hat sich mit seinen 60 Mitarbeitern, die aus 30 verschiedenen Ländern stammen, erfolgreich globalisiert. Das interdisziplinär aus Epidemiologen, Anthropologen, Medizininformatikern und Soziologen, Geographen und Biologen zusammengesetzte Wissenschaftlerteam nimmt inzwischen eine führende Rolle in der Erforschung der internationalen öffentlichen Gesundheit ein.

Die ersten tausend Tage  sind lebensentscheidend

Als neues, von 2013 bis 2019 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes Großprojekt ist unter der Leitung der Privatdozentin Sabine Gabrysch eine Studie über die Mangelernährung in Bangladesch angelaufen. Ziel der Untersuchung ist es herauszufinden, inwieweit in Kleingruppen organisierte Frauen durch den Betrieb von Hausgarten und Hühnerzucht sowie durch Schulungen zu Ernährung, Hygiene und Kinderpflege befähigt werden können, ihren eigenen und den Ernährungszustand ihrer Kinder zu verbessern.

Mangelernährung ist, wie die Epidemiologin Gabrysch in einer Projektbeschreibung ausführt (Ruperto Carola, 6/15), kein exklusives Problem des mit 160 Millionen Einwohnern hoffnungslos unter Überbevölkerung leidenden, relativ kleinen asiatischen Staates. Denn neben den 800 Millionen, die an Hunger leiden, gelten zwei Milliarden Menschen als mangelhaft ernährt.

In 22 Staaten Afrikas, mit Schwerpunkt in der Sahel- und Subsahara-Zone bis hinunter nach Südafrika, sowie in zwölf asiatischen Staaten von Afghanistan über Pakistan und Indien bis nach Indonesien leben, neben dem Gros der mangelernährten Erwachsenen, 90 Prozent der 52 Millionen akut und der 165 Millionen chronisch unterernährten Kinder. Äußerlich erkennbar sind sie am verzögerten Längenwachstum. Aber auch ihre sonstige körperliche und geistige Entwicklung sei, wie Gabrysch warnt, „stark beeinträchtigt“, was Mediziner leicht an höherer Anfälligkeit für Infektionskrankheiten diagnostizieren können.

Überdies habe das Ernährungsdefizit für Generationen von Afrikanern und Asiaten unabwendbar dazu geführt, daß die betroffenen Kinder „zeitlebens kleiner, weniger intelligent, in der Schule weniger erfolgreich und als Erwachsene weniger produktiv“ seien. Es habe sich gezeigt, daß die ersten tausend Tage von der Empfängnis über die Schwangerschaft bis zum Alter von zwei Jahren entscheidend seien. In diesem Lebensabschnitt würden für Gehirn und Immunsystem wichtige Weichen gestellt. Mangelernährung in dieser Periode zeitige darum „dramatische und vielfach irreversible Folgen“.

Frauen dürfen oft nur essen, was Männer übriglassen

Die Ursachen des globalen Dilemmas lassen sich für Gabrysch nicht monokausal auf Armut reduzieren. Vielmehr sei es ein Komplex aus sozialen und ökonomischen Determinanten sowie aus kulturellen Traditionen, die die Stellung von Frauen und Kindern in patriarchalisch gefügten Strukturen bestimmen. Mittlerweile müsse man auch den Klimawandel in die Rechnung einbeziehen, der sich nicht nur in dem von Naturkatastrophen gebeutelten Bangladesch bemerkbar mache.

Noch diktiere in dem bald durch den Meeresspiegelanstieg bedrohten Tiefland des Ganges-Deltas allerdings eine andere Sorge den Alltag. Und die resultiere ausgerechnet aus einer Erfolgsgeschichte des Drittweltstaates. Bangladesch sei es nämlich gelungen, durch Konzentration auf hocheffizienten Reisanbau seine Bevölkerung mit einem Grundnahrungsmittel ausreichend zu versorgen. Leider, wie die Heidelberger Medizinerin beklagt, auf Kosten der Nahrungsvielfalt, denn es fehle an Obst, Gemüse und Hülsenfrüchten. Zwangsläufig bedinge die einseitige Reiskost Mangelernährung.

Eine Malaise, die durch die schwache soziale Position und die geringe Bildung der Frauen verschärft werde, weil viele von ihnen nur essen dürfen, was ihre Männer übriglassen – auch während der Schwangerschaft. Über 30 Prozent aller Kinder kämen folglich bereits untergewichtig zur Welt. Da dann nur wenige Mütter ohne Zusatznahrung stillen und nur wenige ab dem siebten Monat protein-, vitamin- und mineralstoffreichen Brei verabreichen, häufen sich schwere Ernährungsfehler.

Die Heidelberger Forscher um Sabine Gabrysch hoffen zuversichtlich, mit ihrer Interventionsstudie, mit der sie 3.000 junge Frauen und deren Kleinkinder erfaßt haben, einen Weg zu finden, um die Mangelernährung, den „stillen Hunger“, in Bangladesch auch jenseits des überschaubaren Kreises ihrer Probandinnen eindämmen zu können.

 „Der stille Hunger. Nachhaltig gegen Mangelernährung“ als PDF unter www.uni-heidelberg.de/