© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/15 / 18. September 2015

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Auf der Suche nach dem Volk
Paul Rosen

Groß und weit sichtbar prangt an der Westseite des Reichstagsgebäudes der Schriftzug „Dem deutschen Volke“. Im Gebäude spielen das Volk und die Nation so gut wie keine Rolle mehr. Schon im Koalitionsvertrag, den Angela Merkels CDU 2013 mit SPD und CSU abschloß, kam das Wort Nation nicht mehr vor. Auch Begriffe wie „deutsches Volk“ waren nicht mehr zu finden. Immerhin kam die sorbische Minderheit noch in den Genuß, als „Volk“ bezeichnet zu werden.
Wer heute den Begriff Nation im Bundestag sucht, wird nichts mehr finden. Eine Eingabe des Begriffs in die Suchmaske der Homepage www.bundestag.de führt zu vielen Dokumenten, die sich auf die „Vereinten Nationen“ beziehen. Nation im Zusammenhang mit Deutschland kommt aber auch vor, zum Beispiel in einer Drucksache „Rassismus in Deutschland vor dem Ausschuß der Vereinten Nationen“. Weiter geht der Versuch mit der Eingabe „Volk“. Es erscheinen viele Einträge, die mit dem deutschen Volk nichts, aber mit anderen Begriffen und Namen viel zu tun haben. Als der Name des Grünen-Abgeordneten Volker Beck, der mit dem deutschen Volk und der Nation gewiß nichts im Sinn hat, angezeigt wird, geben wir resigniert auf. Ein Griff zur Bundestags-Zeitung Das Parlament führt auch nicht weiter. Von Volk und Nation will man nichts wissen: „Wir sind ein Staat“, lautet der Titel. Im Innern findet sich Distanz: „Die ‘Nationalisierungswelle’, die der Euphorie des Mauerfalls folgte, war für jene, die nicht zu diesem deutschen Volk gehörten oder als nicht zugehörig gesehen wurden, ein Schock. Und der saß lange.“
Immerhin kennt nicht nur das Reichstagsgebäude, sondern auch das Grundgesetz noch ein deutsches Volk. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, heißt es im Artikel 20. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes meinten natürlich das deutsche Volk. Einen Bevölkerungsmischmasch hatten sie nicht im Sinn. Doch nachdem Bundespräsident Joachim Gauck gefordert hat, man müsse den „Begriff Nation neu definieren“, scheinen Änderungen nur noch eine Frage der Zeit zu sein.
Auch nicht mehr in eine zivilgesellschaftlich geprägte Zeit scheint für viele die Eidesformel zu passen, die Kanzlerin und Minister sprechen mußten: „Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“ Die religiöse Formel kann weggelassen werden. Vermutlich wird es bald Abgeordnete geben, die für die nächste Legislaturperiode  eine Modernisierung der Eidesformel fordern. Volk raus – Energiewende rein, könnte die Forderung lauten.
Und Bundestagspräsident Norbert Lammert könnte Vorschläge prüfen, wie von angeblich verstaubten Begriffen wegzukommen ist. Sicher wird der Vorschlag kommen, die Widmung „Dem deutschen Volke“ zu verhüllen. Etwa durch ein Poster, auf dem steht: „Den Menschen“.