© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/15 / 18. September 2015

So schnell wird jeder zum Internethetzer
Nie war es einfacher, Webseiten und Facebook-Einträge zu manipulieren – mit dramatischen Folgen
Henning Hoffgaard

Plötzlich Kinderschänder. Mitte August geistert ein Fahndungsaufruf durch die sozialen Netzwerke. Auf  diesem sind drei Fotos eines jungen Mannes zu sehen. Die Überschrift: „Kriminalpolizei Dresden bittet um Hinweise zu einem KINDERSCHÄNDER.“ Dazu eine Beschreibung (Alter, Größe, Gewicht) und ein Belohnungsversprechen von 1.500 Euro für Hinweise. Mit diesen könne sich jeder an die Dresdener Polizei wenden. Tausendfach wurde das Bild allein auf Facebook geteilt. Erst Tage später stellt sich heraus, der täuschend echt aussehende Fahndungsaufruf ist gefälscht. Die unbekannten Urheber hatten sich selbst verraten. Statt „sachdienlicher Hinweise“ stand auf dem Foto „sachdienstliche Hinweise“. Auch die Internetadresse der Dresdener Polizei sah zwar echt aus, existiert allerdings überhaupt nicht.

Zielscheibe für politische Gegner oder Nachbarn

Die Folgen für die Opfer solcher gefälschter Aufrufe können dramatisch sein. Das Etikett „Kinderschänder“ führt zur faktischen Vernichtung der sozialen Existenz. Im schlimmsten Fall kommt es sogar zu Gewalt. Selbst wenn sich später herausstellt, daß es sich um eine Fälschung handelt, bleibt doch immer etwas hängen. Doch wer steckt dahinter? Braucht es wirklich einen Computerspezialisten, um solche Einträge zu fälschen? Die JUNGE FREIHEIT hat den Test gemacht. Wie lange dauert es, ein gefälschtes Foto eines Internetauftrittes  zu produzieren? Wie schwer ist es, gefälschte Facebook-Einträge in Umlauf zu bringen? Und welche Konsequenzen müssen die Opfer solcher Attacken fürchten?
Kurz gesagt: Die Zeiten, in denen solche Manipulationen Fachwissen voraussetzten, sind lange vorbei. Heute gibt es bereits kostenlose Programme, um jede Internetseite zu fälschen. Für den Browser Firefox gibt es das Add-On „Firebug“. Eigentlich sollen damit Programmierer Fehler auf ihren Internetseiten finden. Doch selbst Laien können mit „Firebug“ im Handumdrehen jede Internetseite manipulieren und von dem Ergebnis dann ein Bildschirmfoto erstellen. Ausgangspunkt ist die HTML-Formatierung der Webseite. Klingt kompliziert, ist aber lediglich die Darstellung der Texte.

Hat der Nutzer einen Internetauftritt mit Firefox geöffnet und gleichzeitig „Firebug“ aufgerufen, werden der vollständige HTML-Code der Webseite und alle darauf befindlichen Texte angezeigt. In einem Suchfenster kann der Nutzer sich dann die Textstelle heraussuchen, die er ändern möchte. Neuer Text, neue Überschrift, alles ist möglich. Selbst Bilder können eingefügt oder gelöscht werden. Kurzum: Die Webseite kann von Grund auf verändert werden. Natürlich passiert das nur auf dem Bildschirm des Firebug-Nutzers.
Die Webseite verändert sich für alle anderen Internetuser nicht. Mit einem Bildschirmfoto läßt sich die veränderte Seite abspeichern und dann beliebig über soziale Netzwerke verbreiten. Auf Videoplattformen wie Youtube kursieren bereits jetzt Anleitungen, wie Internetseiten mit dieser Möglichkeit verändert werden können. „Webseite hacken mit Firebug“, heißt eine davon. In 22 Minuten wird darin erklärt, wie manipuliert werden kann. Viele andere Tutorials sind jedoch deutlich kürzer.
Das Ganze funktioniert auch bei Facebook-Einträgen. Diese können beliebig manipuliert und dann als vermeintlich echtes Foto in Umlauf gebracht werden. Da die Täter solcher Verleumdungen unerkannt bleiben wollen, nutzen sie für die Verbreitung meist anonyme Profile. Gerade beim Kurznachrichtendienst Twitter verbreiten sich solche Meldungen schnell. Zuletzt kämpfte dort die Supermarktkette Lidl gegen einen sich rasend verbreitenden Boykottaufruf. Zuvor waren rechtsextreme Facebook-Beiträge einer angeblichen Lidl-Mitarbeiterin aufgetaucht und wurden tausendfach verbreitet.

Erst später stellte sich heraus: Die Einträge waren gefälscht, und die angebliche Urheberin existiert gar nicht. Da war der Schaden allerdings bereits angerichtet. Richtigstellungen verbreiten sich schließlich langsamer als Vorwürfe. Angesichts dieser Tatsachen bergen die neuesten Vorschläge von Bundesjustizminister Heiko Maas einige Brisanz. Sollte etwa Facebook künftig verpflichtet werden, die Nutzerdaten seiner Mitglieder noch schneller an Behörden weiterzuleiten, müßte wohl schon bald jeder damit rechnen, ins Visier von politischen Gegnern oder wütenden Nachbarn zu geraten. Denn die Polizei wäre verpflichtet, auch gefälschten Bildern, in denen etwa der Holocaust geleugnet wird, nachzugehen. Und sei es nur, um die Unschuld zu ermitteln. Ganz schnell ist so plötzlich jeder Kinderschänder oder Volksverhetzer und hat eine Polizeiakte.

Bild: Original (links) und Fälschung eines „Bild“-Artikels: Viele Veränderungen lassen sich kaum erkennen und sind schnell gemacht