© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/15 / 18. September 2015

Japan läßt die Kirche im Dorf
Tokio könnte, aber will nicht: Ein Ausstieg aus der Atomwirtschaft ist noch lange nicht in Sicht
Christoph Keller

Praktisch über Nacht bewirkte die Dreifachkatastrophe aus Erdbeben, Tsunami und Kernschmelze, die Japan im März 2011 traf, in der 10.000 Kilometer entfernten Bundesrepublik Deutschland bekanntlich den „Atomausstieg“ und die „Energiewende“. Im ostasiatischen Inselreich hingegen ließen sich Politik und Wirtschaft nur kurzzeitig irritieren. Ein fundamentaler energiepolitischer Kurswechsel blieb daher aus.

Nach Meinung von Paul Kevenhörster, Professor für Internationale Politik und Politik Ostasiens an der Universität Münster, werde sich daran so bald nichts ändern. Zwar habe dieser größte anzunehmende Unfall den Mythos von der sicheren Aneignung der Nukleartechnologie nachhaltig erschüttert. Aber die Abschaltung der Kernreaktoren, die das Land in den letzten vier Jahren noch abhängiger von Kohle-, Gas- und Ölimporten machte, führte keine Regierung je in Versuchung, sich aus der Dominanz des „Atomaren Dorfes“ zu lösen. Darunter versteht Kevenhörster ein von der Atomindustrie dominiertes Machtkartell, das Regierungsapparat, Parteien, Gewerkschaften, Verwaltung und Wirtschaftsverbände fest umklammert. Selbst der Betreiberkonzern Tepco, dem das Desaster in Fukushima, wo sich Aufräum­arbeiten an den havarierten Reaktoren über Jahrzehnte hinziehen werden, einen ruinösen Ansehensverlust eintrug, gilt wieder als energiepolitisch federführend, obwohl eine Mehrheit der Bevölkerung einen Atomausstieg befürwortet.

Dabei habe Japan für eine „Grüne Revolution“ gute Karten, da es weltweit über die drittgrößten Ressourcen für Erdwärme verfüge, die Nutzung der Meeres- ebenso wie die der Windenergie ausbauen und die schon stark ausgeschöpfte Wasserkraftgewinnung noch etwas steigern könne. Dazu böte Energiesparen, der Schiefergasimport aus Nordamerika und eine Reform des Stromsektors weitere realistische Wendeperspektiven. Angesichts einer unentschlossenen politischen Klasse dürfte die Macht des „Atomaren Dorfes“ trotzdem ausreichen, um die Wiederinbetriebnahme abgeschalteter Reaktoren durchzusetzen (Zeitschrift für Politik, 2/15).