© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/15 / 25. September 2015

In der Flüchtlingsfalle
Asylkrise II: Bei den Grünen kommt Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann eine Schlüsselrolle zu
Werner Becker

Die Grünen schauen in diesen Tagen voller Sorge nach Baden-Württemberg. Dort, wo mit Winfried Kretschmann der einzige grüne Ministerpräsident regiert, wird im kommenden März gewählt. 2011 spülte ihn „Fukushima“ an die Macht. Und dieses Mal könnte ihm eine tagespolitische Katastrophe den Chefsessel streitig machen. 

Denn die Grünen stecken in der  Flüchtlingsfalle. Offene Grenzen, Aufnahme von Flüchtlingen, eine multikulturelle Gesellschaft – das ist von jeher grünes Tafelsilber. Doch Wahlen lassen sich damit nur schwer gewinnen. Kretschmann weiß dies. Er ist ein gefühlter CDU-Ministerpräsident – katholisch, heimatverbunden, wertkonservativ, Schützenvereinsmitglied, der in seiner Partei zuweilen denkbar fremd wirkt. Das mindert indes nicht seinen Einfluß vor allem in der Asylkrise, von derren Folgen er als Ministerpräsident ganz unmittelbar betroffen ist.  Kretschmanns Chancen auf eine Wiederwahl stehen bislang nicht schlecht. 26 Prozent würden die Grünen derzeit im „Ländle“ wählen, das wären zwei Punkte mehr als 2011. Aber alle in der Parteizentrale, auch jene, die den Ministerpräsidenten nicht mögen – und davon soll es einige geben – sind sich einig, daßdiese Zustimmung fast ausschließlich auf die Person Kretschmanns zurückzuführen ist. 

So ließen sie ihn auch gewähren, als er im vergangenen Jahr die offizielle Parteilinie verließ und im Bundesrat der Großen Koalition zur erforderlichen Mehrheit verhalf, mehrere Balkanländer zu sicheren Drittstaaten zu erklären. Dafür wurde er auf dem Bundesparteitag von der Basis minutenlang ausgebuht. Kretschmann hat dennoch bereits durchblicken lassen, daß er einer weiteren Reform des Asylrechts im Bundesrat nicht im Wege stehen werde. 

Denn der 67jährige weiß, wo der Schuh drückt. Einer seiner engsten Berater ist der Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer. Dieser merkte nun an, „daß die finanzielle und organisatorische Kapazität der Kommunen im Zuge der Flüchtlingskrise ausgereizt ist.“  Beim nächsten Asylkompromiß von Bund und Ländern wird  es darum gehen, Anreize zu setzen, um den Zuzug von Wirtschaftsflüchtlingen einzudämmen. Vor allem wird eine konsequentere Rückführung von nicht anerkannten Asylbewerbern in ihre Heimatländer auf der Agenda stehen. Es steht außer Frage, daß Kretschmann längst auf den Kurs der Großen Koalition eingeschwenkt ist. Kürzlich lobte er die Kanzlerin, daß sie die richtigen Schlüsse aus der Krise ziehe. Unter hochrangigen Funktionären trifft er damit einen Nerv. „Es zeigt sich, daß er die richtige Politik macht. Sein Wahlerfolg war keine Eintagsfliege“, erklärte die stellvertretende Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Kerstin Andreae.  Das Kalkül der Realos ist dabei klar. Gelingt Kretschmann die Wiederwahl, dann wird man sich lautstark zu Wort melden und das Modell Baden-Württemberg als Vorbild für den Bundestagswahlkampf 2017 preisen. Intern bereitet man sich längst auf eine Richtungsentscheidung vor. Viele Berufsfunktionäre sind die Daueropposition in Berlin leid, hadern mit der schwachen SPD und liebäugeln mit der CDU. 

Das geschieht allerdings nicht ohne Reibungsverluste. In Hessen, wo derzeit die einzige schwarz-grüne Koalition regiert, verließ die türkischstämmige Abgeordnete Müvet Öztürk die Landtagsfraktion.  „In der aktuellen Situation scheint mir eine vernünftige Politik im Sinne der Flüchtlinge in der Koalition mit der CDU nicht machbar“, verkündete sie und berichtet davon, daß viele Partei-Linke mit der Faust in der Tasche herumliefen. Offen aufbegehren möchte man nicht, denn als Königsmörder des populären Kretschmann will niemand gelten. Aber wenige Wochen nach der Landtagswahl ist bereits ein kleiner Parteitag angesetzt. Dann könnte abgerechnet werden.