© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/15 / 25. September 2015

Stunde der Wahrheit
Katalonien: Die Parlamentswahl wird zur Abstimmung über die Unabhängigkeit
Michael Ludwig

Toni ist untröstlich. „In wenigen Tagen sind Wahlen  – die vielleicht wichtigsten in meinem Leben, und ich weiß immer noch nicht, welche Partei ich ankreuzen soll,“ erklärt der Mittfünfziger. Der Besitzer einer Großwäscherei in Barcelona mit etwa 60 Mitarbeitern ist ein erfolgreicher Unternehmer, und er ist kurz vor der Stunde der Wahrheit – Katalane. 

Teil seiner komplizierten gefühlsmäßigen Gemengelage ist, daß er zu den 37,3 Prozent seiner Landsleute gehört, die sich dem Katalanischen wie dem Spanischen gleichermaßen zugehörig fühlen. „Zum einen schlägt mein Herz für die Unabhängigkeit der Provinz, in der ich aufgewachsen bin und die meine Heimat ist, zum anderen empfinde ich die Spanier keinesfalls als meine Feinde, sondern als meine Geschwister.“

Wirtschaft warnt vor der drohenden Abspaltung    

Nun ist für Toni guter Rat teuer, wie er sich beim bevorstehenden Urnengang am 27. September verhalten soll: dem amtierenden Ministerpräsidenten Artur Mas folgen, der Katalonien weg von Spanien in die Unabhängigkeit führen will, oder eine der gemäßigten bürgerlichen Parteien wählen, die den Bruch mit Madrid vermeiden wollen?

Man muß Tonis Vergangenheit kennen, um seinen Konflikt zu verstehen. „Ich habe meinen Militärdienst während der Franco-Zeit auf Mallorca abgeleistet. Damals war es streng verboten, im Dienst katalanisch zu sprechen. Als ich in meiner Einheit zufällig einen Jugendfreund getroffen habe, der in dem gleichen kleinen Dorf in den Pyrenäen groß geworden ist wie ich, haben wir natürlich katalanisch miteinander gesprochen. Unser Unteroffizier hat das mitbekommen, und zur Strafe mußten wir drei Tage lang die Kantine schrubben.“

 Toni ist die Verbitterung darüber noch heute anzumerken. So wie ihm geht es vielen Katalanen – sie können einfach nicht vergessen, daß die Kastilier, also die Bewohner der zentralspanischen Provinzen, ihre kulturelle Identität auszulöschen versuchten. Seit dem Tod Francos 1976 besitzt das iberische Land jedoch eine Verfassung, die den Provinzen – und damit auch Katalonien – große Freiheiten einräumt, vor allem auf kulturellem Gebiet. Auch das gehört zur Wirklichkeit des südeuropäischen Landes, und Toni weiß dies zu schätzen.

Er wäre kein erfolgreicher Unternehmer, wenn er nicht auf die wirtschaftlichen Konsequenzen einer Sezession achten würde. Nur wenige Tage nach der Großdemonstration zum katalanischen Nationalfeiertag am 11. September, an der mehr als eine Million Katalanen ihren Wunsch nach Unabhängigkeit artikulierten, warnte der Dachverband der Schwerindustrie vor einer drohenden Abspaltung und wies darauf hin, daß im Falle eines Bruchs mit dem Mutterland die Produktion in den Fabriken erheblich erschwert und der Handel mit dem Ausland auf „Grenzen“ stoßen würde, die Konsequenzen für die Wettbewerbsfähigkeit nach sich zögen. Die Metallindustrie zählt mit insgesamt 120.000 Unternehmen und 1,2 Millionen Beschäftigten zu den Schlüsselindustrien auch des nordöstlichen Landesteils. 

Im Ton schärfer reagierten die Banken und Sparkassen. In einer gemeinsamen Erklärung betonten ihre Dachverbände AEB und CECA, daß eine einseitig erklärte Unabhängigkeit dazu führen würde, die Präsenz von Geldinstituten in Katalonien generell in Frage zu stellen. Sie befürchten, daß dann der direkte Zugang zur Europäischen Zentralbank versperrt sein würde, die eine wichtige Finanzierungsquelle für Banken ist. Außerdem fiele die Einlagensicherung für die Kunden weg – sie beträgt 100.000 Euro und wird von einem europäischen Fonds garantiert.

Umfragen sehen knappe Mehrheit für Sezession  

Das alles bereitet Toni Kopfzerbrechen. Er verweist zudem auf statistische Werte, die in der Tat alarmierend sind: „Seit dem Amtsantritt von Artur Mas 2012 sind nahezu 4.000 Betriebe aus Katalonien abgewandert, weil sie im Falle einer Unabhängigkeit erhebliche wirtschaftliche Nachteile befürchten.“ 40 Prozent von ihnen haben sich in Madrid niedergelassen, das eine ausgesprochen flexible Politik verfolgt.

Lange Zeit wollte die katalanische Regierung nicht wahrhaben, daß die Ausrufung eines eigenen Staates mit dem Ausschluß aus der EU Hand in Hand geht. Erneut wies Brüssel auf diesen Automatismus hin. Margaritis Schinas, Sprecher von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, erklärte: „Wenn ein Teil eines Mitgliedstaates aufhört, Teil dieses Staates zu sein, weil sich sein Gebiet in ein unabhängiges Land verwandelt, dann wird es im Bezug zur EU zu einem Drittland und müßte den Antrag stellen, in die EU aufgenommen zu werden.“ Sollte es dazu kommen, hätte das für Katalonien verheerende wirtschaftliche Folgen – es müßte alle Waren, die es in die EU-Mitgliedsländer exportiert, verzollen. Das übrige Spanien, in das Barcelona jährlich Waren für rund 40 Milliarden Euro verkauft, würde als Markt weitgehend wegbrechen.

Wird die Bevölkerung trotz dieser wirtschaftlichen Unabwägbarkeiten dem Unabhängigkeitskurs ihres Ministerpräsidenten folgen? Umfragen prognostizieren, daß die Listenverbindung „Junts pel Si“ (Gemeinsam für das Ja), in der sich die Mitte-Rechts-Partei CDC des amtierenden Regierungschefs und die linksnationalistische ERC zusammengefunden haben (sie werden zudem von der linksextremistischen CUP unterstützt) mit einer hauchdünnen absoluten Mehrheit an Sitzen (68 von insgesamt 135) rechnen kann. 

Sollten die Unabhängigkeitsbefürworter die Mehrheit erringen, werden sie innerhalb der nächsten 18 Monate eine Verfassung ausarbeiten. Sollte diese von der Bevölkerung mehrheitlich angenommen werden, wäre der nächste Schritt die Ausrufung der Unabhängigkeit.

Wie aber würde Madrid auf einen solchen Kurs reagieren? Zunächst wohl gar nicht, denn im Dezember finden in ganz Spanien Parlamentswahlen statt. Sollte es die konservative PP abermals schaffen, die Regierung zu stellen, ist ein Konflikt unausweichlich, denn sie hält die Pläne Barcelonas für verfassungswidrig. Ministerpräsident Mariano Rajoy erklärt immer wieder, daß Katalonien „nicht unabhängig wird“. Er kann notfalls Mas als Ministerpräsident absetzen und das katalanische Parlament suspendieren.