© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/15 / 25. September 2015

Versammlungsrecht unter Beschuß
Freiheit wird nicht geschenkt
Heiko Urbanzyk

Da kommt man immer mit Versammlungsrecht ...“, kommentierte Til Schweiger Mitte August in der Talkshow „Menschen bei Maischberger“ lapidar eines der wichtigsten Grundrechte der Deutschen. Das Versammlungsrecht ändern, um Demonstrationen gegen Asylbewerberheime zu verhindern, zwei Hundertschaften hinschicken, Demonstranten für eine Nacht ins Gefängnis stecken. So würde es der „Tatort“-Kommissar und neues Gesicht der Flüchtlingslobby gerne sehen. Diese berüchtigte „Sie gehen mir auf den Sack“-Ansprache brachte Til Schweiger mittlerweile eine (sicherlich aussichtslose) Strafanzeige wegen Volksverhetzung ein. Das Video ist auf Veranlassung der ARD bei Youtube gelöscht worden.

Wie auf der Straße umgesetzt wird, was Berühmtheiten wie Schweiger als geistige Brandsätze gegen das Versammlungsrecht von sich geben, zeigt der folgende Fall vom März 2014 in Leverkusen. Pro NRW hält eine angemeldete Kundgebung in der Innenstadt ab. Auffällig zufällig sammeln sich vor dem Stand nach und nach immer mehr Gegenprotestler, die zufällig alle mit Trillerpfeifen ausgestattet sind – und erwartungsgemäß die Wortbeiträge des ohnehin kleinen Häufleins niederpfeifen. Vor allem ältere Teilnehmer beklagen Ohrenschmerzen durch das Trillerpfeifenkonzert. Eine der angekündigten Rednerinnen akzeptiert es nicht, daß sie ihr eigenes Wort nicht verstehen, geschweige denn es gemäß Artikel 5 Grundgesetz mitteilen kann. Sie bittet den Einsatzleiter der Polizei darum, die Trillerpfeifen einzusammeln. Der reagiert sinngemäß mit den Worten, die Dame solle das doch selber machen und dreht sich weg. Die energische Dame geht tatsächlich auf die unangemeldete Kundgebung zu und schlägt zwei Frauen die Pfeifen aus dem Mund, die dabei leider leicht berührt werden. Für die Rednerin endet die Aktion in einer Anklage vor dem Amtsgericht Leverkusen.

„Wer in der Absicht, nicht verbotene Versammlungen oder Aufzüge zu verhindern oder zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vornimmt oder androht oder grobe Störungen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft“, heißt es in Paragraph 21 des Versammlungsgesetzes (VersG) des Bundes (das seit der Föderalismusreform zunehmend durch ähnliche beziehungsweise gleichlautende Landesgesetze abgelöst wird). Wenn das Trillerpfeifenkonzert keine Straftat in Form grober Störung war, was dann? Zu Recht plädierte der Verteidiger der obengenannten Angeklagten auf Freispruch wegen Notwehr. Die Vorsitzende Richterin und die Staatsanwältin müßten es bei nüchternem juristischem Sachverstand ebenso erkannt haben. Es beginnt ein juristisches Geschachere: Würde eine milde Geldstrafe akzeptiert? Auf keinen Fall! Es kommt letztlich zu einer äußerst geringen Verwarnung durch das Gericht – die niedrigst denkbare Ahndung vor dem Freispruch. Über die Sprungrevision gegen diese Entscheidung ist noch nicht entschieden.

Das eingangs genannte Kundgebungsgeschehen, das Verhalten der Polizei – laut Richterin ein klares Fehlverhalten, das sie mildernd wertete – und letztlich die Reaktion der Justiz sind bezeichnend dafür, wie es seit Jahrzehnten um das Recht auf Versammlungsfreiheit aus Artikel 8 GG bestellt ist. Es ist daran zu erinnern: Dieses Recht wäre nicht nötig, wenn es ohnehin nur staatstragende Veranstaltungen im Sinne parlamentarisch (mehrheitlich) vertretener Gruppierungen schützen sollte. Es ist nötig, um diejenigen Ansichten wirksam zu schützen, die vom medial-politisch propagierten und gegebenenfalls tatsächlich im Volk herrschenden Mainstream abweichen. Das gilt für die rechtsradikale „Nein zum Asylheim“-Demonstration ebenso wie für den linksextremistischen Aufzug „Gegen Repression und das gesamte System“.

Durch das Klageerzwingungsverfahren und durch eine Nebenklägerrolle im Verfahren sollten die Opfer strafbarer Demonstrationsblockaden die Strafverfolgung bis zur letzten Konsequenz vorantreiben. Denn wo kein Kläger, da kein Richter. 

Dem wird die Wirklichkeit nicht gerecht. Der Rechtsbruch in Sachen Artikel 21 VersG ist alltäglich, wird fast nie geahndet und politisch sogar belobigt. Professor Michael Knape sprach in einem Aufsatz in Die Polizei daher zu Recht von einer „vergessene[n] Strafrechtsnorm“. Knape hegt keinen Zweifel daran, daß Blockaden und übertönender Lärm durch Gegendemonstranten strafbar sind. Solche Stimmen aus dem etablierten Lager sind selten, zumal Knape selbst Polizeidirektor in Berlin ist.

Für seine Kollegen auf der Straße bringt der Polizist einerseits Verständnis auf. Als Honorarprofessor an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht unterrichtet er sie selbst in Einsatzlehre und Versammlungsrecht. Er gesteht seinen Kollegen zu, daß die Räumung solcher Blockaden wegen der großen Teilnehmerzahlen regelmäßig aussichtslos sei. Trotzdem dürfe es einen „Totalverzicht auf die Strafverfolgung“ nur in Ausnahmefällen geben. Die Polizei müsse starke Einsatz- und Zugriffskräfte, ja sogar mehrere Hundertschaften Zugriffskräfte einsetzen, um die Festnahme der Blockierer sicherzustellen.

Knape ist zuzustimmen, wenn er schreibt, daß jeder Polizist, der einer rechtswidrigen Verhinderungsblockade tatenlos zusehe, eine Strafvereitelung im Amt (Paragraphen 258, 258a Strafgesetzbuch) begehe. Hiernach macht sich strafbar, wer als Amtsträger „absichtlich oder wissentlich ganz oder zum Teil vereitelt, daß ein anderer dem Strafgesetz gemäß wegen einer rechtswidrigen Tat bestraft […] wird“. Die Anweisung durch Vorgesetzte, diese Straftaten untätig hinzunehmen, sei rechtlich unverbindlich und ändere an der Strafbarkeit nichts. Wie schlimm muß es um die Versammlungsfreiheit bestellt sein und wie unerträglich die Lage für die Polizei, wenn sich ein Polizeidirektor mit solchen Worten der Gefahr aussetzt, als „Nestbeschmutzer“ aus den eigenen Reihen verstoßen zu werden?

Letztlich – und Knapes Ausführungen sind nicht anders zu deuten – müssen die Opfer strafbarer Demonstrationsblockaden jeden beteiligten Polizisten und Gegendemonstranten anzeigen und die Strafverfolgung bis zur letzten Konsequenz vorantreiben: durch das Klageerzwingungsverfahren bei einer Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft; durch eine Nebenklägerrolle im Verfahren, um es möglichst in der Hand zu haben, durch alle Instanzen schreiten zu können. Obergerichtliche Rechtsprechung hierzu existiert nicht. Das erstaunt, denn angeblich finden im Schnitt pro Woche bundesweit zwei „rechte“ Demonstrationen statt. Es gibt keine Statistik, aber nur die wenigsten dieser Veranstaltungen dürften ohne Gegenproteste stattfinden. Aber wo kein Kläger, da kein Richter. Es liegt an den Opfern der Gegendemonstrationen, mit Nerven aus Stahl und gegebenenfalls dem nötigen Kleingeld den Kampf um ihr Versammlungsrecht in die Hand zu nehmen.

Aber wer hat daran schon Vergnügen? Im Endeffekt ist der Gegner ein Goliath:  Gewaltbereite, bestens vernetzte, staatlich finanzierte Linke; wegschauende Polizisten, auf deren Schultern der Druck des Beamtenrechts und der veröffentlichten Meinung lastet sowie eventuell der prominente Politiker in der ersten Reihe der Gegner; ermittlungsunwillige, weisungsabhängige Staatsanwaltschaften; unverständlich verständnisvolle Richter, die sich einen Medienskandal oder den Farbbeutel an der Hauswand nicht antun wollen. Aber letztlich braucht David nicht darüber zu jammern, daß Goliath ihm seine Grundrechte rechtswidrig verkürzt, wenn er selbst nicht dazu bereit ist, die Schleuder des Rechtsstaates gegen das Unrecht in die Hand zu nehmen.

Zarte Pflanzen in Sachen Artikel 8 GG blühen in der Justiz. Erst im Mai entschied das niedersächsische Oberverwaltungsgericht (OVG), daß das tatenlose Zusehen der Polizei beim Niederbrüllen einer NPD-Demonstration rechtswidrig gewesen ist (OVG Lüneburg, Beschluß vom 28. Mai 2015, Az. 11 LA 19/15). Die Gegendemonstranten donnerten mit Trillerpfeifen, Buhrufen und einer 5.000-Watt-Musikanlage auf ihre im Rahmen des Gesetzes handelnden Gegner ein. Die beklagte Polizei und Journalisten, die als Zeugen geladen waren, relativierten, daß sich die Balken bogen, der Lärm sei gar nicht schlimm gewesen. Videoaufnahmen bewiesen den Richtern indessen das Gegenteil. 

Eine Rechtsprechung wie die des OVG Niedersachsen gab es jedoch schon immer. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erwies sich stets als sichere Bank, wenn es darum ging, in allerletzter Minute die Verbote von Demonstrationen aufzuheben, deren Inhalte und Teilnehmer man mögen kann oder nicht. Aber Justizangehörige beginnen, die Weichen anders zu stellen. Ein Richter des OVG Nordrhein-Westfalen in Münster verlangte unlängst in der Zeitschrift für Rechtspolitik, das Versammlungsgesetz so zu ändern, daß unliebsame Demonstrationen endgültig verboten werden können – und die letzte Entscheidung darüber nicht mehr beim BVerfG liegt.

Der Gegner ist ein Goliath. Aber letztlich braucht David nicht darüber zu jammern, daß Goliath ihm seine Grundrechte rechtswidrig verkürzt, wenn er selbst nicht dazu bereit ist, die Schleuder des Rechtsstaates gegen das Unrecht in die Hand zu nehmen. 

Artikel 8 Absatz 1 GG solle durch eine „Klarstellung“ ergänzt werden, „wonach eine Versammlung bereits dann nicht mehr als friedlich anzusehen ist, wenn sie darauf gerichtet ist, gegen eine bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einzelne Personen zu Haß oder Gewalt aufzustacheln.“ Der Wortlaut ist dem Volksverhetzungsparagraphen 130 StGB entlehnt. Daß aber Demonstrationen gerade dann verboten werden dürfen, wenn ihre Inhalte strafbare Volksverhetzung darstellen, ist genau das, was auch das BVerfG sagt. Der OVG-Richter ging daher weiter: „Auch ohne daß die weiteren Anforderungen für eine Volksverhetzung nach § 130 StGB erreicht werden“, sollten nach seiner Ansicht „haßschürende“ Versammlungen „nicht unter dem Schutz der Verfassung, auch nicht der Meinungsfreiheit“ stehen. Kurz gesagt: Menschen „rechtsradikaler“ oder auch nur „rechter“ Gesinnung sollen selbst dann nicht mehr ihre Meinung auf der Straße kundgeben dürfen, wenn das, was sie kundgeben, strafrechtlich irrelevant ist. Dies ist übrigens die seit Jahr und Tag ständige Rechtsprechung des OVG NRW (und gerade des besagten Richters), wenn es Versammlungen verbietet – und die regelmäßig vom BVerfG kassiert wird. Ein Schelm, wer Böses bei solchen Aufsätzen denkt.

Noch offen bleibt, welche Auswirkungen das vom BVerfG bestätigte Demonstrationsverbot des „Tages der Patrioten“ in Hamburg mit der Begründung des polizeilichen Notstandes haben wird (JF 39/15; Beschluß vom 11. September 2015 – 1 BvR 2211/15). Angekündigte, auch gewalttätige Gegenproteste sind nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG nämlich bisher kein tauglicher Grund gewesen, kurzerhand den polizeilichen Notstand auszurufen und eine Versammlung deshalb zu verbieten. Drohen Gewalttaten als Gegenreaktion auf Versammlungen, so sei es laut Karlsruhe Aufgabe der Polizei, in unparteiischer Weise auf die Verwirklichung der Versammlungsfreiheit hinzuwirken und die polizeilichen Kräfte bereitzustellen, um dieses Ziel zu erreichen. In Hamburg zog das OVG es ausdrücklich in Zweifel, daß die Verantwortlichen alle nötigen Anstrengungen unternommen hätten, den polizeilichen Notstand zu verhindern. Mit offensichtlichen Bauchschmerzen befanden sich jedoch sowohl das OVG als auch das BVerfG für unfähig, den Sachverhalt im Rahmen der Kürze eines Eilverfahrens würdigen zu können. Es sei jedenfalls „weder ersichtlich, daß das [OVG] damit den Sicherheitsbehörden einen Weg öffnen will, durch schlichte Verweigerung der gebotenen Anstrengungen Versammlungen zu verhindern, noch daß die [Stadt Hamburg] sich an die insoweit maßgeblichen Maßstäbe nicht halten und diesen Weg als ein Mittel zur Verhinderung von unliebsamen Versammlungen wählen wird.“ Warten wir’s ab.

Unsere Grundrechte sind nicht weniger gefährdet als in jedem anderen politischen System. Die Gewalt auf den Straßen ist hierzulande ebenso real wie das Wegsehen von Exekutive und Jurisdiktion. Wer seine Kritik auf die Straße trägt und wieder einmal dabei blockiert oder niedergeschrien wird, muß auf Artikel 8 GG pochen. Er muß dabei an Paragraph 21 VersG denken, wenn er Gegendemonstranten sieht und an Strafvereitelung im Amt (Paragraphen 258, 258a StGB), wenn die Polizei sich nicht regt. Es geht nicht anders. Schon Hoffmann von Fallersleben mahnte: „Die Freiheit wird nicht geschenkt.“






Heiko Urbanzyk, Jahrgang 1979, ist Rechtsanwalt und freier Journalist. Er arbeitet und lebt mit seiner Frau und zwei Kindern im Münsterland. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Stellung der Familie im Staat („Was wir den Kindern vorleben“, JF 3/15).

Foto: Rechtswidrige Sitzblockade zur Verhinderung eines angemeldeten und genehmigten Aufzuges der im Schweriner Landtag vertretenen NPD (Demmin, Mecklenburg-Vorpommern, 8. Mai 2015): „Wer in der Absicht, nicht verbotene Versammlungen oder Aufzüge zu verhindern oder zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vornimmt oder androht oder grobe Störungen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.“ Doch der Paragraph 21 des Versammlungsgesetzes ist eine „vergessene Strafrechtsnorm“.