© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/15 / 25. September 2015

Ein chronisch depressiver Statthalter des Glücks
Der undogmatische Vater der Frankfurter Schule: Vor 75 Jahren nahm sich der Kulturphilosoph Walter Benjamin das Leben
Arnold Paetsch

Bert Brecht verfügte auf dem Weg ins Exil zwar nicht über märchenhafte Mittel wie sein Kollege Thomas Mann. Aber für ein Tuskulum auf der Insel Fünen, mit Blick auf Kleinen Belt und dänische Südsee, reichte es. Auch dafür, im idyllischen Skovsbostrand bis zum Sommer 1938 den mittellosen Freund Walter Benjamin oft monatelang zu beherbergen.

Den Dramatiker und den philosophisch ambitionierten Literaturkritiker verband die marxistische Weltanschauung. Wie Brecht jedoch im täglichen Umgang mit seinem unentwegt lesenden und schreibenden Schachpartner erfahren sollte, erwies sich der ideologische Kitt eher als porös, so daß nur dank persönlicher Wertschätzung füreinander die Harmonie nicht bröckelte. Denn Brecht blieb, selbst unter dem Eindruck der 1936 anlaufenden „Großen Säuberung“ in Stalins Sowjetparadies, ein orthodoxer Parteigänger, ein Vulgärmarxist in den Augen seines Gastes. Während umgekehrt der Intellektuelle ostentativ verachtende, sich gern proletarisch mit Lederjoppe inszenierende „Stückeschreiber“ Brecht über den ideologisch eher ungefestigten Gelehrten Kritisches ins Arbeitsjournal eintrug. Benjamin habe bei Filmanalysen entdeckt, wie die Aura von Kunstwerken unter den Bedingungen ihrer Reproduzierbarkeit zerfalle, aber das sei ja wohl „alles mystik, bei einer haltung gegen mystik. in solcher Form wird die materialistische geschichtsauffassung adaptiert! es ist ziemlich grauenhaft“, greinte der Dramatiker.

Der Anfangsverdacht, Mystik, präziser: jüdische Mystik, mit marxistischem Atheismus verkuppelt und daraus eine messianische Geschichtsphilosophie synthetisiert zu haben, gehört zum Repertoire der Standardthemen, an denen sich jede größere Benjamin-Studie abarbeitet. Genau so wie der ans „Mystik“-Etikett angeklebte Vorwurf der Unverständlichkeit eines scheinbar auf das Unsagbare fixierten Theoretikers. 

Bereits ein 1928 über Benjamins von der Frankfurter Philosophischen Fakultät abgewiesene Habilitationsschrift („Ursprung des deutschen Trauerspiels“) gutachtender Zeitgenosse, der damals in Königsberg lehrende Orientalist Hans Heinrich Schaeder, mit dem Verfasser in Verehrung für Goethe und Hugo von Hofmannsthal vereint, bündelte in wenigen Zeilen, was bis heute als „Aura“ des Esoterischen die Schriften Benjamins umgibt: „Ich habe mir (…) Mühe gegeben, durch dreimalige Lektüre und philosophische Interpretation der einzelnen Sätze wenigstens einigermaßen in den Sinn des ersten Kapitels zu kommen. Aber ich verhehle mir nicht, daß wohl nur ganz wenige Leser Geduld und Zeit genug haben werden, um sich diese ganz individuelle und bis zur Unverständlichkeit verdunkelte Scholastik zu assimilieren.“ So resümiert der Sohn eines Theologieprofessors, der selbst als bedeutender Religionswissenschaftler und weit über sein Spezialfach hinaus versierter Ideenhistoriker brillierte.

„Geist von 1914“ schloß sich der Jugendbewegte nicht an

Wer meint, diese von Schaeder auf die Formel „Pseudoplatonismus“ gebrachte eigenwillige Art der Wahrheitssuche mit Weltfremdheit oder Einzelgängerei abtun zu können, irrt. Der 1892 in Berlin geborene Sohn eines durch Kunsthandel zu Wohlstand, durch Börsenspekulation zu Reichtum gelangten, zum assimilierten, arrivierten Judentum zählenden Vaters und einer Mutter, die dem weitverzweigten jüdischen Bildungsbürgertum des preußischen Ostens entstammte, schloß sich schon 1905 der Jugendbewegung an, einer Avantgarde des modernen Zeitgeistes. Im Landerziehungsheim Haubinda lernte er den Reformpädagogen Gustav Wyneken kennen, der 1913 an der Formulierung der Meißner-Formel beteiligt war. Erste Veröffentlichungen des jungen Studenten Benjamin, der im Oktober 1913 ebenfalls auf dem Hohen Meißner dabei war und der 1914 den Vorsitz in der Freien Studentenschaft der Berliner Universität übernahm, engagierten sich radikal schul- und bildungsreformerisch. 

Benjamin geriet dann allerdings vorübergehend in eine gewisse Außenseiterposition, weil er im Gegensatz zum Gros seiner kriegsbegeisterten Kommilitonen nicht dem „Geist von 1914“ huldigte. Stattdessen entzog er sich dem Zugriff des Militärs durch einen Studienortwechsel nach Bern, wo er 1919 über den „Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“ promovierte. Erst in den „Goldenen Zwanzigern“ der Weimarer Republik erlangte er wieder eine gewisse Diskurshoheit, um 1930 als führender, in der Frankfurter Zeitung und in der Literarischen Welt publizierender, das neue Medium Rundfunk virtuos nutzender linker „Stratege im Literaturkampf“ im Zenit seines Ruhmes zu stehen. Dort zog er wortgewaltig zu Felde gegen das liberale Juste milieu wie gegen die jungkonservative Intelligenz von Ernst Jünger bis Max Kommerell.

Was nicht hieß, daß der dem „politischen Theologen“ Carl Schmitt Reverenz erweisende Benjamin zum geistigen Repräsentanten der Republik verkommen wäre. Das „System“ der parlamentarischen Demokratie lehnte er ab, die ex post hymnisch verklärte „Weimarer Kultur“ verachtete er, weil sie nach amerikanischem Vorbild half, die Massen zu verdummen. Auch als Kritiker, der zeitweise dicht vernetzt und entsprechend „gut im Geschäft“ war, wahrte er daher stets Distanz. Das entsprach seinem mentalreservierten Lebensmuster: Mit dem Scheitern der akademischen Karriere, ohnehin nur mit angezogener Handbremse angesteuert, fand sich Benjamin rasch ab. Ebenso mit der geschwind zerrütteten Ehe, da er damit der Gefahr zu entgehen glaubte, in bürgerlicher Saturiertheit zu erstarren. 

Um 1931, eigentlich auf höchster Welle des journalistischen Erfolgs schwimmend, plante der periodisch in tiefe depressive Löcher fallende Autor seinen Suizid. Von der emotionalen Halt gebenden Jugendbewegung hatte er sich schon 1914 wegen ihres überbordenden Nationalismus gelöst. Der Zionismus, früh vermittelt durch den Lebensfreund Gershom Scholem, zerfiel für ihn in eine nur unter Vorbehalt rezipierte religiöse und in eine ihn kalt lassende politische Komponente. Lockrufen des nach Palästina ausgewanderten Scholem widerstand er ebenso wie dessen Mahnungen, sich weder von Brecht noch von der spröden lettischen Geliebten Asja Lacis auf die kommunistische Leimrute führen zu lassen. 

Der Marxismus als gußeiserner Ideologiekäfig stieß ihn jedoch wegen des öden Materialismus ab. Und als gänzlich indiskutabel galt dessen realexistente Umsetzung durch die Sowjetmacht oder gar durch die auf Bürgerkrieg getrimmte stalinistische Thälmann-KPD, der sein Bruder Georg (der Ehemann der späteren DDR-Justizministerin Hilde Benjamin) wie Scholems Bruder Werner, die beide nach 1933 als NS-Opfer im Konzentrationslager endeten, als Funktionäre dienten. Er selbst trat der Partei nicht bei. Eine tragische Ironie liegt darin, daß ihm 1939 die Gestapo-Stigmatisierung ausgerechnet als KPdSU-Sympathisant die Ausbürgerung einbrachte, allein weil er 1936 in einer Moskauer Exil-Zeitschrift einen marginalen Artikel veröffentlicht hatte.

Überzeugende Bilder des menschlichen Gegenglücks

Doch ungeachtet des polyzentrischen Anscheins, den Leben und Werk erwecken, ist ein Mittelpunkt in Benjamins Weltbild, ein Ur-Impuls seines Denkens unschwer auszumachen. Der ergibt sich schon aus dem Geschichtsverständnis des jugendbewegten Millionärssohnes. Für den im Luxus aufgewachsenen Villenbewohner, der sich erst als Pariser Exilant endgültig zum „Lumpenproletariat“ gestoßen fühlte, existierte die „Menge der Ausgeschlossenen“ der wilhelminischen Epoche im Elend. Eine skandalöse Relation von Arm und Reich, Oben und Unten, an der sich in der achttausendjährigen Menschheitsgeschichte, die Benjamin rigoros als permanente Abfolge von Katastrophen begriff, nicht nur nichts geändert hatte, sondern die in ihrer jüngsten, der kapitalistischen, den gesamten Erdball sich unterwerfenden Ausprägung die extrem inhumanen Züge der „offenen, unverschämten, direkten, dürren Ausbeutung“ (Karl Marx/Friedrich Engels) angenommen habe. Woraus der junge Benjamin den kindlich-naiv anmutenden Imperativ für den bürgerlichen Intellektuellen ableitete, sich der Glücksvermehrung für die Erniedrigten und Beleidigten widmen zu müssen. Darauf, sich als „Statthalter des Glücks“ verdient zu machen, so der Benjamin-Interpret Norbert Bolz, habe sich der Ehrgeiz dieses notorischen Melancholikers tatsächlich gerichtet. 

Welches Glück? Über die von Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“ hingetuschten idealistischen Verheißungen Goethes, Schillers und Wilhelm von Humboldts verpflichteten Impressionen gingen Benjamins Definitionen nicht hinaus. Das Glück, so dekretierten die Erzväter 1848, erfasse die Menschheit jenseits der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen, wenn an deren Stelle eines nicht fernen Tages die „Assoziation“ trete, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. Eine gefährlich vage Utopie, deren Übersetzung durch Jürgen Habermas, Demokratie arbeite an der Selbstbestimmung der Menschheit, und erst wenn diese wirklich sei, sei jene wahr, bis heute nicht nur auf Scharen hierzulande regierender Tröpfe bezwingenden Zauber ausübt.

Überzeugender fielen Benjamins Beschreibungen des Gegenglücks aus. Dabei soufflierte wiederum Karl Marx, wie im vierten „Kapital“-Kapitel „Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“ nachzulesen ist, das wie ein Codeknacker für sämtliche neomarxistischen Texte der Lukács, Horkheimer, Adorno, Marcuse, Fromm et al. funktioniert. Bei Adornos Lehrer Benjamin kulminiert dies im fragmentarischen, überwiegend aus Zitaten montierten, daher selbst noch den „deutschen Chronisten“ Walter Kempowski animierenden „Passagen“-Werk in Auftritten des Flaneurs und der zur Körperware degradierten Prostituierten. Letztere als Maximum des kapitalistisch entfremdeten Daseins. 

Der psychoanalytisch geschulte materialistische Historiker, der nicht auf marxistisch determiniertes „Fortschreiten“ ins herrschaftsfreie, klassenlose Paradies „aller Menschen“ vertraut, kann durch „Eingedenken“, durch die Vergegenwärtigung solcher geknechteten Schrumpfformen des Menschlichen ebenso wie der archaisch schlummernden, „unabgegoltenen“ Wünsche und Sehnsüchte vergangener Geschlechter, zumindest den revolutionären Griff zur Notbremse disponieren. Dieser bringe nach jüdisch-messianischem Glauben dann vielleicht über Nacht die „Erlösung“ der Menschheit.

Am 26. September 1940, als sein ihm in der Modernekritik gar nicht so wesensferner Antipode Martin Heideg-ger den 51. Geburtstag feierte, nahm der am französisch-spanischen Grenzübergang Portbou zurückgewiesene und seine Auslieferung ins Großdeutsche Reich befürchtende Walter Benjamin eine Überdosis Morphiumtabletten. Der Tod trat am frühen Morgen des folgenden Tages ein.

Foto: Walter Benjamin, Photographie um 1925: Jenseits des eisernen Ideologiekäfigs des Marxismus