© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/15 / 02. Oktober 2015

„Dieses Buch ist ein patriotisches“
Drei Jahre Arbeit – nun endlich erscheint es, das große JF-Buch „Deutsche Geschichte für junge Leser“. Der Göttinger Historiker Karlheinz Weißmann hat es geschrieben – ausgewogen, aber gegen den Zeitgeist
Moritz Schwarz

Herr Dr. Weißmann, warum noch ein Buch über deutsche Geschichte für „junge Leser“?

Weißmann: Nun, weil es nichts Vergleichbares gibt und dieses Buch eine Lücke füllt, die dringend gefüllt werden muß.

Gibt es nicht eine Flut von Büchern, die Kindern und Heranwachsenden Geschichte nahebringen sollen?

Weißmann: Das mag wohl sein. Aber in diesem Fall geht es um eine Darstellung unserer, also der Geschichte unseres Volkes, und es geht darum, diese Geschichte angemessen zu präsentieren und zu bewerten.

Was meinen Sie mit angemessen?

Weißmann: Angemessen heißt, in fairer Gewichtung der Licht- und der Schattenseiten. Um es gleich zu sagen: sehr viel mehr Licht- als Schattenseiten.

Tatsächlich fällt auf, daß etwa Ihre Bewertung des Arminius oder der wilhelminischen Zeit von der sonst üblichen abweicht.

Weißmann: Wie man von Tacitus bis Engels und auch danach noch wußte, war Arminius der „Befreier Germaniens“. Was soll da die heute übliche Denunziation dieses Helden oder überhaupt die Neigung, den römischen Kolonialismus als eine einzige Wohltat darzustellen, für die unsere Vorfahren auch noch dankbar zu sein hatten. So abschätzig, wie bei uns von Arminius gesprochen wird, würde kein gebildeter Franzose eine Gestalt wie Vercingetorix werten, der den Kampf der Gallier gegen die Römer führte, und der Keltenfürstin Boudicca, die den letzten großen Aufstand in Britannien angezettelt hat, errichtete man gegenüber dem Parlament in London ein großes Denkmal. Was das Bismarckreich angeht, kommt wenigstens allmählich eine neue Einschätzung zur Geltung, vor allem weil ausländische Historiker den Mut haben, auf dessen vorzügliche Verfassung und Modernität hinzuweisen. Und selbstverständlich hat der Weltgeist kläglich versagt, als er uns 1918 besiegen ließ.

Ziemlich unorthodoxe Anschauungen – jedenfalls für einen Geschichtslehrer.

Weißmann: Nun, es sind Anschauungen, die mindestens bei einem erheblichen Teil meiner Geschichtslehrer noch als üblich gegolten haben. Wer bis zur Mitte der siebziger Jahre eine westdeutsche Schule besuchte, hatte durchaus Chancen, nicht nur ein gerüttelt Maß an Kenntnissen vermittelt zu bekommen, sondern auch eine ganz adäquate Vorstellung davon, wie die Ereignisse der Vergangenheit zu beurteilen waren. Wir sollten die Anomalie der Gegenwart nicht ganz aus dem Blick verlieren, auch wenn sie sich so zäh am Leben hält.

Aber auch in Ihrer Jugend dürfte es nicht gelungen sein, jeden für den Geschichtsunterricht zu begeistern. An dem Problem hat sich wohl wenig geändert. Was läuft da oft falsch, wie könnte man es besser machen?

Weißmann: An sich ist es nicht schwer, ein aufgewecktes Kind für Geschichte zu interessieren. Die Vergangenheit ist etwas, das dunkel, geheimnisvoll, anders erscheint, also interessant. Ob es nun um die Pyramiden des alten Ägypten geht oder um Hünengräber, um die Burg vor meiner Haustür oder um die Vorzeitfunde in einer Höhle, die man im Frankreichurlaub besucht. Ein Heranwachsender wird darauf im Normalfall mit Aufmerksamkeit reagieren. Und wenn der Schulmeister es richtig anstellt, dann kann er etwas davon in seinen Unterricht retten. Natürlich geht es da auch um das Lernen von Daten und Fakten, aber eben nicht nur, und vor allem die Erzählung, die plastische Schilderung von Menschen und Ereignissen, ist eine sehr gute Möglichkeit, das Interesse von Kindern oder Jugendlichen zu wecken oder zu erhalten. Es muß aber um solche Ereignisse gehen, in denen sich etwas von der vergangenen Zeit verdichtet hat: Alexander zerschlägt den Gordischen Knoten; der junge Hermann Billung tritt dem König in den Weg; Luther vor dem Kaiser; die deutschen Offiziere, denen die Revolutionäre die Schulterstücke abreißen; die englischen Studenten, die in der Oxforder „King and Country“-Debatte 1933 geloben, niemals mehr für König und Vaterland zu kämpfen.

Und so etwas zu erzählen, bekommt der Geschichtslehrer in Studium oder Referendariat beigebracht?

Weißmann: Natürlich nicht. Ich kann mich noch an das Entsetzen meines Ausbilders erinnern, als ich als Referendar meiner Klasse schilderte, wie Napoleon bei Waterloo auf Verstärkung wartete und sich endlich Truppen näherten, die die grauen Mäntel der französischen Armee zu tragen schienen, bis er dann voller Schrecken begriff, daß es sich um Preußen handelte, deren blaue Uniformen von Schlamm bedeckt waren. Die Schüler hat das in Bann geschlagen, aber es widersprach ganz und gar den reinen Lehren der Didaktik.

Beeindruckt hat Sie das nicht?

Weißmann: Nein. Ich habe meinen Rüffel kassiert, mir mein Teil gedacht und die Geschichtserzählung so wenig aufgegeben wie die Arbeit mit Karten oder die Faustskizze im Tafelbild, auch wenn derlei gerade ganz und gar verpönt war.

Aber es werden sich doch in den dreißig Jahren, die Sie als Lehrer arbeiten, Veränderungen im Hinblick auf den Geschichtsunterricht ergeben haben?

Weißmann: Veränderungen: ja. Verbesserungen: nein. Als ich in den 1980er Jahren begann, gab es eine Art Überforderung der Schüler in Richtung Verwissenschaftlichung des Unterrichts. Quellenarbeit und Kritikfähigkeit waren Schlüsselvorstellungen. Heute geht es um systematische Unterforderung: Abbau von Kenntnissen und Vermittlung von festgelegten Deutungsmustern. Und dann natürlich alle möglichen Mätzchen: Schnipsel aus Comics zum Beispiel, und manchmal auch ein Auszug aus einem Jugendbuch mit geschichtlichem Thema. Das sind dann die pädagogischen Schleichwege, die man sucht, um doch etwas von der notwendigen Lebendigkeit zu retten.

Worauf führen Sie das zurück?

Weißmann: Nun, zum größten Teil hat das mit dem Zustand der Kulturpolitik zu tun, der allgemeinen Senkung der Bildungsstandards. Geschichtsunterricht verlangt ja in den höheren Jahrgängen eine Menge Abstraktionsvermögen, Text-interpretation etc. Aber es geht meiner Meinung nach auch um ein konstruktivistisches Verständnis von Geschichte, das heißt, die Schüler sollen den Eindruck gewinnen, als ob der konkrete Ablauf der Ereignisse und das konkrete Verhalten der Personen unerheblich sind. Geschichte erscheint entweder als unerhebliche Wiederkehr des Ewiggleichen – „denen oben ging es gut, denen unten ging es schlecht“, bilanzierte mal ein Schüler fünf Jahre Unterricht – oder als eine Art Sammlung von Exempeln zum Zweck moralischer Erziehung, wobei klar ist, daß die Heutigen in der besten aller denkbaren Welten angekommen sind, mit der verglichen alles in der Vergangenheit böse, sprich undemokratisch, intolerant, frauenfeindlich und latent rassistisch war.

Mit dem, was man in Deutschland einmal unter Historiographie verstand, lassen sich solche Konzepte aber nicht rechtfertigen?

Weißmann: Nein, selbstverständlich nicht. Weder geht es darum, die historischen Vorgänge aus sich heraus zu verstehen, noch darum, an der Geschichte Maßstäbe zu bilden, die tatsächlich erlauben, die Vergangenheit – und mithin die Gegenwart – zu beurteilen. Die Aufgabe der Chronologie im Oberstufenunterricht, die Versessenheit auf unhistorische „Längsschnitte“ oder gleich die Beseitigung des Fachs Geschichte zugunsten irgendeines Konglomerats, das durch die Verknüpfung mit Geographie, Politik und Wirtschaft entsteht, das alles geht im Grunde in dieselbe Richtung.

„Längsschnitte“? „Beseitigung des Fachs Geschichte“?

Weißmann: Längsschnitt bedeutet, daß man ein Thema nicht chronologisch, sondern unter strukturellem Aspekt behandelt: also etwa „Wanderungen“, und das dann am Beispiel der germanischen Völkerwanderung, der Wanderung der Turkvölker, der Vertreibung der Ostdeutschen und der Flüchtlingskrise 2015. Damit entfällt die Möglichkeit, die Dinge aus ihrer Genese heraus – das heißt historisch – zu verstehen. Das Konzept stammt aus den Sozialwissenschaften, und die Degradierung der Geschichte zur „historischen Sozialwissenschaft“ begründet auch die Forderung, das Fach mit Politik, Geographie oder ähnlichen zu einem Ganzen zu verschmelzen – von dem natürlich kein Lehrer etwas versteht.

Für die Verknüpfung von nationaler Identität und Geschichtsunterricht bleibt da natürlich auch kein Platz?

Weißmann: Abgesehen von der Beschäftigung mit der nationalen Vergangenheit zwecks Festigung des schlechten Kollektivgewissens, besteht tatsächlich kein Zusammenhang. Es ist schlechterdings unvorstellbar, daß irgend jemand in verantwortlicher Stellung erklärt, der Geschichtsunterricht an den Schulen müsse dem Zweck dienen, die Heranwachsenden mit Stolz auf ihr Vaterland zu erfüllen.

Dem wollen Sie mit Ihrer „Deutschen Geschichte für junge Leser“ abhelfen?

Weißmann: Ja, unbedingt. Als Dieter Stein vor drei Jahren mit der Idee an mich herantrat, dieses Buch zu machen, waren wir uns von Anfang an einig, welche Zielsetzung wir verfolgten: Dieses Buch ist ein patriotisches, es soll dazu dienen, den Heranwachsenden ein umfassendes und verständliches Bild der Vergangenheit unseres Volkes zu liefern. Es wird nichts beschönigt und nichts ausgelassen, aber der Akzent darauf gelegt, was uns als Deutsche zu Recht Selbstbewußtsein einflößt. Insofern, um noch einmal auf das Stichwort „Identität“ zurückzukommen, soll es tatsächlich Identität stiften. So wie der einzelne nur versteht, wer er ist, indem er sich seiner Geschichte vergewissert, so weiß die Nation auch nur, was sie ist, wenn sie ihre große Erzählung hört und vergegenwärtigt: „narrare necesse est“, es ist notwendig, zu erzählen. Das ist etwas anderes als eine historische Darstellung zu wissenschaftlichen Zwecken, vielmehr der Versuch, ein Geschichtsbild zu entwerfen, weil die Nation nicht ohne ein solches existieren, Mut fassen, sich der Zukunft zuwenden kann.

Aber haben nicht auch Erwachsene solche Ermutigung nötig?

Weißmann: Irgendwo muß man anfangen, und ich glaube, daß auch viele Erwachsene das Buch als eine erste Hinführung mit Gewinn lesen können. Junge Leser ist ein weit gefaßter Begriff, jeder Junggebliebene soll sich ausdrücklich mit angesprochen fühlen.






Dr. Karlheinz Weißmann, der Publizist und Historiker veröffentlichte bereits zahlreiche Bücher, darunter „1914. Die Erfindung des häßlichen Deutschen“, „Das konservative Minimum“, den Ullstein-Band „Rückruf in die Geschichte“ und „Der Weg in den Abgrund. Deutschland unter Hitler 1933–1945“, das 1995 als neunter Band in der populären Propyläen-Reihe „Geschichte Deutschlands“ erschienen ist. Geboren wurde Karlheinz Weißmann 1959 im niedersächsischen Northeim. Er studierte Geschichte und evangelische Theologie und unterrichtet seit 1983 als Studienrat an einem Gymnasium in Göttingen. Seit 1988 schreibt er auch für die JUNGE FREIHEIT, in der er seit 2010 zudem alle zwei Wochen seine Kolumne „Gegenaufklärung“ veröffentlicht.  

Foto: Autor Weißmann: „Es wird nichts beschönigt und nichts ausgelassen, aber der Akzent darauf gelegt, was uns als Deutsche zu Recht Selbstbewußtsein einflößt ... (Der Band) soll Identität stiften“ 

 

weitere Interview-Partner der JF