© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/15 / 02. Oktober 2015

Blühende Industrielandschaften
25 Jahre Einheit: Trotz Kahlschlag im produzierenden Gewerbe haben sich zahlreiche Standorte gut gehalten
Thomas Fasbender

Als Helmut Kohl 1990 „blühende Landschaften“ prophezeite und versprach, es werde „niemandem schlechter gehen als zuvor – dafür vielen besser“, brachte ihm das bald Spott und Häme ein. Auch die Kanzlermahnung vom März 1993, eine erfolgreiche Industrienation lasse „sich nicht als kollektiver Freizeitpark organisieren“, empörte Kohls Kritiker. Heute läßt sich feststellen, daß weite Teile der ehemaligen DDR in der Tat beides sind: Landschafts- und Freizeitparadiese, aber auch dynamische, traditionsreiche Industriestandorte. Der Fortschritt kam – um den Preis vieler Arbeitsplatzverluste und umfangreicher Milliardeninvestitionen.

Vor 25 Jahren war die Umwelt im mitteldeutschen Chemiedreieck Halle-Merseburg-Bitterfeld so gut wie zerstört. Schwefelgelbe Rauchwolken hingen über den Braunkohlemeilern und den Buna-Werken, dem Herz der Kautschukproduktion. Flugasche sank schwarz auf die Wäsche nieder, und giftiger Schaum schwamm auf den Flüssen. Den Fischen wuchsen eiterfarbene Geschwulste. Heute arbeiten wieder 11.000 Menschen am Standort des untergegangenen Chemiekombinats Bitterfeld.

Ihre Arbeitgeber sind Tochtergesellschaften von Bayer, Akzo Nobel, Nuplex oder Heraeus. Im unweit gelegenen Technologiepark Mitteldeutschland gibt es weitere 2.000 Beschäftigte. Unter dem Dach der alten Leunawerke produziert eine der modernsten Ölraffinerien Europas. 1916 von der BASF ins Leben gerufen, vereint der Standort inzwischen eines der modernsten Chemie-Netzwerke Deutschlands. Addinol, BASF, Cri Catalyst, Domo, Dow Chemical, Leuna Tenside, Linde oder Total repräsentieren dort die traditionsreiche deutsche Schlüsselindustrie. 2012 hat sich das „Spitzencluster BioEconomy“ hinzugesellt, das die Kohle- und Erdölchemie mit Biomasse ergänzen soll.

Nach dem massiven Arbeitsplatzverlust in den neunziger Jahren, einschneidenden Restrukturierungen und teilweise mehrfachem Eigentümerwechsel sind die alten mitteldeutschen Industriestandorte, deren Ursprung sämtlich auf die Zeit vor der deutschen Teilung zurückgeht, mit Ehrgeiz und Erfolg auf dem Weg ins 21. Jahrhundert. Unternehmerisch stehen internationale und deutsche Großkonzerne ebenso dahinter wie der Mittelstand und Neugründungen aus der jeweiligen Region.

Der Anteil des produzierenden Gewerbes an der deutschen Wirtschaftsleistung liegt bei 23 Prozent, in den neuen Bundesländern nur bei knapp 16 Prozent – immerhin wächst die Industrieproduktion seit 1995 im Schnitt um jährlich rund fünf Prozent. Bei den industrierelevanten Dienstleistungen hat der Osten sogar die Nase vorn. In den neuen Bundesländern machen sie 18 Prozent der Wertschöpfung aus, in Gesamtdeutschland nur 16 Prozent. In Thüringen sowie in Teilen Sachsens und Sachsen-Anhalts liegt der Anteil der Industriearbeitsplätze inzwischen wieder über dem deutschen Durchschnitt.

Bahnen aus Bautzen, Görlitz und Hennigsdorf

Der mit 30.000 Beschäftigten einstmals größte Industriestandort der DDR, Schöneweide im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick, spiegelt allerdings den Auszug des produzierenden Gewerbes aus dem urbanen Umfeld. Das noch zur Kaiserzeit als AEG-Stadt entwickelte Gelände beherbergt heute die Hochschule für Wirtschaft und Technik, Kulturzentren und Unternehmen der Mikrosystemtechnik. Mehr Zukunft als Gewerbestandort hat Hennigsdorf, hauptstadtnah in Brandenburg gelegen, wo seit 1913 über 20.000 Lokomotiven und Triebwagen hergestellt wurden.

Der kanadische Bombardier-Konzern betreibt dort sein größtes deutsches Werk. Bombardier produziert auch in Bautzen und Görlitz, wo schon 1869 Bahnen gefertigt wurden. Seit 2010 arbeitet Bombardier an einem 1,9-Milliarden-Auftrag für Doppelstocktriebzüge der Schweizer SBB. Das berühmteste Schienenprodukt der damaligen Wumag ist der ab 1932 ausgelieferte Schnelltriebzug „Fliegender Hamburger“ für den Expreßverkehr zwischen Berlin und Hamburg. Heute sind es neben Straßenbahnen auch Teile für den neuen IC4.

Ihre Tradition bewahrt haben auch die Thüringer Meister der Waffen- und Uhrenindustrie. In der Nachkriegszeit fast vergessene Standorte wie Glashütte und Ruhla (Uhren) haben sich wieder an die internationale Spitze emporgearbeitet. Die Waffenstadt Suhl im Thüringer Wald, wo schon im Mittelalter Schwerter und Harnische geschmiedet wurden, beherbergte während der DDR-Jahrzehnte den wahrscheinlich größten Jagdwaffenhersteller Europas – jedoch auf einem technisch völlig veralteten Niveau. Seit 1994 wird wieder unter dem Namen der 1948 enteigneten Gründerfamilie Merkel produziert. Allerdings spiegeln die Eigentumsverhältnisse den Eintritt in eine neue Zeit: seit 2007 gehört der Betrieb einem Fonds aus Abu Dhabi.

Auch der mecklenburgische Schiffbau ist längst globalisiert. Von den vier ansässigen Werftbetrieben blickt allerdings nur die Rostocker Neptun Werft, die zur Papenburger Meyer Werft gehört, auf eine Geschichte vor 1945 zurück. Eigentümer der Nordic-Werft mit den Standorten Wismar, Warnemünde und Stralsund (1.400 Mitarbeiter) ist seit 2009 der Russe Witali Jussufow, Sohn eines Ex-Ministers und Gazprom-Aufsichtsrats. Zuvor hatten ebenfalls russische Eigentümer die damals noch Wadan Yards genannten Standorte in die Insolvenz geführt.

Wie die meisten deutschen Werften kämpfen auch die Mecklenburger ums Überleben. Noch arbeitet Nordic am „Projekt DolWin3“, einer 900 Megawatt starken Gleichstromanbindung für Nordseewindparks, sowie an zwei eisbrechenden Bergungs- und Rettungsschiffen für Rußland. Doch die komplizierten deutsch-russischen Beziehungen sind jetzt schon ein Problem, das Kohl bei seinen Prognosen von 1990 nicht auf der Rechnung haben konnte.





Mit Ostalgie bundesweit erfolgreich

BMW und Porsche in Leipzig, Mercedes in Ludwigsfelde, Opel in Eisenach oder die VW-Standorte in Sachsen sichern Zehntausende Arbeitsplätze an traditionellen Standorten – doch die Konzernzentralen sind allesamt im Westen. Nur im Mittelstand haben sich einstige DDR-Firmen bis heute halten können. Besonders erfolgreich war dabei die Lebensmittelbranche. Einige Anbieter setzten bewußt auf die Ende der neunziger Jahre einsetzende „Ostalgie-Welle“ – die wachsende Nachfrage nach vertrauten Namen oder regionalen Spezialitäten. Die Rotkäppchen-Sektkellerei war so erfolgreich, daß sie inzwischen die Konkurrenzmarken Mumm, MM Extra und das Spirituosengeschäft von Eckes (Chantré, Mariacron) auf sich vereint. Der 1992 reprivatisierte Hallenser Backspezialist Kathi überlebte zunächst nur durch seinen in Mitteldeutschland bekannten Namen. Heute sind auch Backmischungen für Brownies, Crêpes, Muffins und Pizzateige im Angebot.

Anbieter für „ostalgische“ Produkte  www.ossiladen.de  www.ostprodukte-versand.de

Foto: Werkhalle von Bombardier Bautzen: 1998 durch den kanadischen Konzern übernommen und heute Zentrum des Stadt- und Straßenbahnbaus