© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/15 / 02. Oktober 2015

Dank an Gott und Adenauer
Ab dem 7. Oktober 1955 treffen die letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion in Friedland ein / Neben dem WM-Titelgewinn 1954 wird die „Heimkehr der Zehntausend“ zu einem kollektiven Schlüsselerlebnis der Bundesrepublik
Gernot Facius

Etapp, dawai“ - Transport, los!  Die Bewacher kommandieren ausgemergelte Gestalten in die Waggons. Die Züge rollen von Swerdlowsk am langen gestreckten Rücken des Ural durch die Weiten Rußlands, sieben Tage und sieben Nächte, ehe sie schließlich den Grenzkontrollpunkt Herleshausen passieren, Autobusse bringen die menschliche Fracht ins Lager Friedland bei Göttingen. Es läutet die 1949 von Vertriebenen, Flüchtlingen und Heimkehrern gestiftete, 700 Kilogramm schwere Glocke, die Feuerwehrkapelle intoniert den Choral „Nun danket alle Gott“. Ein Sprecher der Ankömmlinge sagt: „Wir sind die letzten Soldaten des Großen Krieges. Wir weinen, und wir schämen uns der Tränen nicht.“ Menschen, die zehn Jahre und mehr voneinander getrennt waren, liegen sich in den Armen. Man hört die Schreie einer Mutter, die ihren vermißten Sohn wiedererkennt. Vor den Lagertoren stehen Frauen mit Pappschildern um den Hals und der Frage auf den Lippen: „Wer kennt ...?“Immer, wenn Transporte eintreffen, sind sie da, viele sind von weither angereist, manche seit zehn Jahren, Arme und Reiche. 

Es ist der 7. Oktober 1955: Mit der Rückkehr der ersten 600 von in der Sowjetunion festgehaltenen 9.626 deutschen Kriegsgefangenen, vier Wochen nach Konrad Adenauers historischem Moskau-Besuch (JF 37/15), endet nach einer populären Deutung die unmittelbare Nachkriegszeit. 

Gefangene wurden nicht mehr als Faustpfand der Sowjets benötigt 

„Es war ein Tag der Wiedergeburt“, beschrieb der Arzt Karl Schenkelberg die Gefühle der Entlassenen. Die sowjetische Siegermacht hatte sie zu „Kriegsverurteilten“ oder gar „Kriegsverbrechern“ gestempelt. Das Urteil lautete in der Regel auf 25 Jahre Zwangsarbeit; für den Kreml wurden diese Deutschen zur Verhandlungsmasse bei der Anknüpfung diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Moskau. Und nun waren sie in Freiheit. Am 29. September hatten die meisten von ihnen von der bevorstehenden Entlassung erfahren. Den früheren Breslauer Polizeipräsidenten Otto Ullmann traf die frohe Kunde so unerwartet, daß er einem Herzschlag erlag. 

Die ganze Freude der Heimkehrer kam in dem Telegramm zum Ausdruck, das der Sprecher des ersten Transports, General Ehrenfried Boege, an Adenauer sandte: „Gestern in die Heimat zurückgekehrt, drängt es uns, Ihnen, der Bundesregierung und dem Bundestag und damit dem ganzen deutschen Volk unseren aufrichtigsten Dank auszusprechen. Wir sind uns bewußt, daß wir in erster Linie Ihren Bemühungen das Glück der Heimkehr danken.“ 

So lobend äußerten sich nicht alle über die Bonner Aktivitäten. Heinz Heinrich Meyer, auch er ein „Friedländer“, kratzte später am Adenauer-Mythos. In einer als Dissertation geplanten Schrift hielt er dem Kanzler vor, die Politik der Westintegration und der Wiederbewaffnung ohne Rücksicht auf die deutschen Geiseln in der Sowjetunion durchgesetzt zu haben. Dann fragte er spitz: Habe Adenauer im September 1955 die Freilassung der rund 10.000 noch „erkämpfen“ müssen, wenn es doch schon einen positiven ZK-Beschluß gegeben habe und die Sowjets die Gefangenen nach dem Beitritt der Bundesrepublik zur Nato nicht mehr als Faustpfand gebraucht hätten?  

Letzteres mag in der Aktenlage eine Stütze finden, sie entspricht jedoch nicht der Erfahrung der damals handelnden Personen und auch nicht der Sichtweise der Deutschen der fünfziger Jahre. Vor allem Michael Borchard von der Konrad-Adenauer-Stiftung bemühte sich in seiner Dissertation „Die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjet-union“ (2000) die These zu entkräften, daß eine frühere Freilassung der letzten Kriegsgefangenen möglich gewesen wäre, aber vom Kanzler auf dem „Altar der Westbindung“ geopfert worden sei. Borchard argumentiert anders. Erst die zunehmende Souveränität und Westbindung der Bonner Republik durch die Pariser Verträge von 1954 habe eine Lösung möglich gemacht. 

Nach dieser Lesart hat das wachsende Interesse Moskaus an einer Konsolidierung des Status quo in Europa und damit an diplomatischen Beziehungen mit Bonn dazu geführt, daß das Faustpfand Kriegsgefangene an Wert verlor. Der Kern von Borchards These: Aus einem eigentlich humanitären Problem sei ein zutiefst politisches geworden, es habe folglich nur auf politischem Wege gelöst werden können. Diese Sichtweise hatte auch Adenauers Kritik an dem „Moskau-Plan“ des damaligen Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes, Heinrich Weitz, bestimmt. Der Kanzler befürchtete, daß sich Weitz von sowjetischer Seite zu gefährlichen Aussagen, etwa über die Einstufung der Gefangenen als Kriegsverbrecher, bewegen lassen könnte. Zudem beharrte er darauf, daß sich diese Frage nur auf Regierungsebene regeln lassen würde.  

In der Zeit vom 3. November 1955 schrieb Karl Willy Beer von einer „merkwürdigen Gesellschaft, die zusammen mit den vielen Hundert anonymen Schulzes, Müllers und Meiers“ in jenen Oktobertagen in Friedland aus den Omnibussen stieg. Mit dem ersten Transport kehrte General Walther von Seydlitz-Kurzbach zurück, ein führendes Mitglied des von den Sowjets gesteuerten Nationalkomitees Freies Deutschland. In Gefangenschaft hatte er schwarz-weiß-rote Flugblätter unterzeichnet, auf denen die Wehrmachtssoldaten zum Überlaufen aufgefordert wurden. In Friedland nahm er für sich in Anspruch, den Weg nach Moskau, den Adenauer im September 1955 gegangen sei, bereits vor elf Jahren beschritten zu haben. Die Kameraden jedoch schnitten Seydlitz. Der Panzergeneral Sigfrid Henrici hielt ihm Unwürdigkeit vor. Seydlitz hatte unter anderem bei Saporoschje einen Divisionskommandeur mit dem Versprechen zum Überlaufen zu bewegen versucht, daß er als erster aus der Gefangenschaft entlassen werde. 

Erst im Januar 1956 kehrte der letzte Transport zurück

Unter den Heimgekehrten war auch der letzte Kommandant der Festung Königsberg, General Otto Lasch. Hitler hatte ihn zum Tode verurteilen lassen, weil Lasch, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, die ostpreußische Hauptstadt am 9. April 1945 den Sowjets übergeben hatte. In der Gefangenschaft war der General keineswegs bevorzugt behandelt worden. Wie bei seinen Kameraden lautete das Verdikt: 25 Jahre Freiheitsstrafe. Der Kreml schickte auch zwei berüchtigte Aufseher des KZ Sachsenhausen zurück: Gustav Sorge und Wilhelm Schubert. Das Landgericht Bonn verurteilte sie 1959 zu lebenslangen Freiheitsstrafen.  

Zur Verblüffung vieler kamen in Friedland auch Männer und Frauen an, die erst Jahre nach Kriegsende in der Sowjetzone verschwunden beziehungsweise verhaftet worden waren, darunter zwei Berliner Journalisten und eine Sekretärin aus dem Außenministerium in Ost-Berlin. Noch fragwürdiger aber müsse es erscheinen, notierte der Zeit-Autor Beer, daß der KPD-Bundestagsabgeordnete Kurt Müller, Stellvertreter des Parteivorsitzenden Max Reimann, „nach fünf Jahren Verschwundenseins den Deutschen als ‘Heimkehrer’ wiedergeschenkt wird“.  Ebenso verhielt es sich mit dem Alt-kommunisten Leo Bauer, zuletzt Chefredakteur des Deutschlandsenders, der später als Berater der SPD-Führung unter Willy Brandt eine Rolle spielte. 

Zwischen dem 7. und dem 20. Oktober trafen 18 Transporte mit etwa 5.000 Heimkehrern ein. Der dpa-Chef Fritz Sänger (SPD) riet seinen Pressekollegen, nur vorsichtig darüber zu berichten. Denn noch immer schoß die Kreml-Propaganda aus vollen Rohren. Friedland, so die Prawda, sei zu einer „Bühne zügelloser Verherrlichung der ehemaligen Mitschuldigen Hitlerscher Verbrechen“ gemacht worden. 

Die Heimhol-Aktion geriet am 20. Oktober ins Stocken. Angeblich wegen fehlender Transportkapazitäten. Bundesaußenminister Heinrich von Brentano (CDU) hielt dieses Argument für unbegründet. In der veröffentlichten Meinung wurde, was der Wirklichkeit näher kam, ein Zusammenhang mit einer zögerlichen Erteilung des Agreements für den künftigen Botschafter Walerian Alexandrowitsch Sorin vermutet. Bonn wartete erst mal ab. „Unter keinen Umständen“ (Kabinettsprotokoll) sollte von offizieller Seite ein Verdacht wegen etwa mangelhafter Loyalität der Russen aufkommen. Erst am 24. November erging die Weisung an die Diplomatie, die Sowjets an das Adenauer gegebene Ehrenwort zu erinnern – zeitgleich mit dem Ja zu Sorin.  Dann rollten die Züge wieder. Am 16. Januar 1956 traf der letzte große Transport (474 Personen) in Friedland ein: Ende einer Episode der Nachkriegsgeschichte. 

Fotos: General Otto Lasch (r.), Verteidiger Königsbergs 1945: Von den Sowjets als Kriegsverbrecher denunziert; Frau sucht verzweifelt den seit Kriegsende vermißten Ehemann: Viele Hoffnungen wurden enttäuscht; Rußlandheimkehrer im Kreis seiner Familie: „Die letzten Soldaten des Großen Krieges“; Durchgangslager Friedland 1955: Vor den Toren stehen Frauen mit Pappschildern und der Frage auf den Lippen: „Wer kennt ...?“; Friedlandglocke: „Läute in die Welt hinaus, bis der letzte Bruder kehrt ins Vaterhaus!“