© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/15 / 02. Oktober 2015

Das Gefühl der Gemeinschaft auskosten
Kulturfestival der deutschen Volksgruppe in Breslau: Ist das Glas der Selbstbehauptung halb leer oder halb voll?
Edmund Pander

Lothar Wittek ist aus Ruderswald im Kreis Ratibor angereist. Ein typischer Oberschlesier. Er schimpft: „Es geht alles bergab! Richtig aktiv ist doch kaum noch einer, und die deutsche Sprache wird auch nur offiziell, aber nicht wirklich gepflegt.“ Diese Einschätzung mag man bestätigt sehen am Eingang der Jahrhunderthalle in Breslau, als junge Mädels beim Verteilen des Programms tausendfach „prosze“ (bitte) sagen. In diesem ist die Schlagersängerin Andrea Rischka „aus Chrzelice“ (deutsch: Schelitz) oder eine Tanzgruppe aus „Tarnowskie Góry“ (deutsch: Tarnowitz) angekündigt. Dabei wird sonst seitens der Volksgruppe jedes neue zweisprachige Ortsschild als wichtiger Baustein in der Identitätsarbeit gefeiert.

Ein Wiener an der Oder, oder Illusion für einen Tag

Ist das Glas für die deutsche Volksgruppe in Polen nun halb leer oder halb voll? Im Zentrum Niederschlesiens, in der Metropole Breslau, haben die Deutschen jenseits von Oder und Neiße bei ihrem Kulturfestival am Samstag gezeigt, was sie können und aus dem vollen geschöpft. Die riesige Jahrhunderthalle von 1913 ist bis auf die Ränge hinauf besetzt, Tausende Deutsche sind hergekommen, um bereits zum fünften Mal ein großes Gemeinschaftserlebnis zu feiern. 48 Busse sollen es allein aus dem Bezirk Oppeln, dem Siedlungszentrum der Volksgruppe, gewesen sein, 18 aus dem Bezirk Schlesien, noch einmal zwei Dutzend aus Stettin, Stolp, Graudenz, Allenstein, Neidenburg und anderen Regionen der Republik, wo es Deutsche Freundschaftskreise gibt, in denen sich die Deutschen organisiert haben, um ihre Identität zu bewahren. An über einem Dutzend Infoständen präsentieren deutsche Betriebe und die wenigen deutschen Schulen ihre Arbeit, junge Leute und deutsche Fähnchen vermitteln ein optimistisches Bild.

Und einen Neuaufbruch gibt es durchaus. Mit Bernard Gaida steht ein Mann an der Spitze des deutschen Dachverbandes, der in intellektuellen Diskussionen standhält. In freundschaftlicher Verbundenheit zu Gaida und ohne politischen Auftrag ist der frühere Bundesbeauftragte für Minderheiten Christoph Bergner als einer der 7.000 Gäste auszumachen, ebenso sein Nachfolger im Amt Hartmut Koschyk. In seiner Eröffnungsrede forderte Gaida „die Unterstützung sowohl der polnischen als auch der deutschen Regierung“ ein – und legte sodann den Finger in die Wunde: „Aber auch wir selbst müssen die Präsenz der deutschen Sprache in Schule und Zuhause wollen.“

Während der Großteil der Teilnehmer im Saal dem mehrstündigen Programm aus Folkloreauftritten, Theatersketchen, Chordarbietungen und Jazzeinlagen in rascher Folge zuhört, klatscht und mitsingt und sich auf den Höhepunkt des Tages, den Auftritt des Stargastes Andy Borg einstimmt, findet eine wissenschaftliche Debatte mit Historikern und Politikern in der Rotunde der Jahrhunderthalle statt. Bernard Gaida beklagt wie so oft, daß die deutschen Medien die Debatten am „Runden Tisch“ zwischen beiden Regierungsseiten und Vertretern der deutschen Volksgruppe sowie der Polonia in Deutschland nicht aus dem Blickwinkel der Nöte der Deutschen in Polen wahrnähmen, sondern, wenn überhaupt, über Klagen der Polonia in Deutschland berichten. Die deutsche Volksgruppe wurde vom offiziellen Polen so auch in der wissenschaftlichen Aufarbeitung ihrer Geschichte nach 1945 bislang mit einer einzigen Konferenz (JF 50/13) abgespeist, die sich den „kommunistischen Behörden“ im Umgang mit ihr widmete – ganz so, als ließe sich die Unterdrückung nach 1945 bequem auf das verhaßte System abwälzen und nicht auf die Frage, wer aus dem Volk wieso mitgemacht habe.

Doch ist es nicht ebenfalls bequem, das Hauptaugenmerk der deutschen Gemeinschaft in Polen auf ein volkstümliches Fest statt auf die Schärfung eines historisch reflektierten Selbstbewußteins zu legen? In Oberschlesien hat die deutsche Minderheit viele junge Leute an die schlesische Autonomiebewegung (RAS) verloren, die Forderungen an Warschau selbstbewußter formuliert und sich nicht durch Scheinerfolge einer politischen Teilhabe blenden läßt. Andy Borg jedenfalls trifft in Breslau das Gespür, so viel Wehmut zu setzen, wie eine jahrzehntelang geknechtete Volksgruppe sich selbst gestattet. Die Alten möchten lieber noch ein paar Jahre das Gefühl auskosten, doch noch Teil einer deutschen Kulturnation zu sein.

Vor dem Auftritt verrät Andy Borg hinter der Bühne: „Ich habe einen technischen Leiter, mit dem ich über 30 Jahre zusammenarbeite. Und im Vorfeld der Reise habe ich erfahren, daß sein Papa hier aus der Nähe stammt. Ich möchte das aber nicht auf die Bühne tragen. Die Menschen kennen ihre Geschichte hier, und ich bin ein dicker Wiener, der heute für die Unterhaltung da ist.“ Die Halle brodelt zum Abschluß eine gute Stunde und hat für einen Tag die Illusion, eine große und starke Gemeinschaft in Polen zu sein.