© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/15 / 09. Oktober 2015

Hoffen auf goldene Zeiten
Wirtschaft: Während Äthiopien vor allem durch den Einfluß Pekings an Stabilität gewinnt, sucht Nachbar Kenia den Erfolg in erster Line auf eigene Faust
Marc Zoellner

Einen solchen Empfang hatte Addis Abeba in seiner gerade einmal 129 Jahre währenden Geschichte wohl noch nie erleben dürfen: Gleich mehrere zehntausend der rund dreieinhalb Millionen Einwohner zählenden, pulsierenden Metropole im Herzen Ostafrikas drängten sich auf den roten Teppich, um der Eröffnung der neuen S-Bahn beiwohnen zu dürfen. Mehrere Minister des Landes waren extra für dieses Spektakel angereist. Und während eine Gruppe äthiopischer Tänzer ihre traditionelle Show auf der Bühne zum besten gab, stimmten sogar die anwesenden chinesischen Investoren eine spontan improvisierte Freudenhymne auf den vergangenen Sonntag an – natürlich auf chinesisch.

Als „einen Meilenstein auf dem Weg unserer Nation aus der Armut heraus“ beschrieb auch Workneh Gebeyu, der äthiopische Minister für Transportwesen, die Feier der zahllosen Interessierten, bevor er das Band mit der roten Schleife durchschnitt und die Strecke freigab für eine der faszinierendsten Errungenschaften nicht nur seines Landes, sondern des gesamten Kontinents. Mit dem AA-LRT besitzt Äthiopien seit diesem Wochenende seine erste moderne S-Bahn; und die allererste dieser Stadtschnellbahnen im gesamten Raum südlich der Sahara obendrauf.

China baut Einfluß auf Addis Abeba aus 

Was für europäische Ohren banal klingen mag, stellt für Äthiopien als afrikanisches Präzedenzbeispiel tatsächlich einen Meilenstein in der Entwicklung seines Landes dar. Denn mit rund 96 Millionen Bürgern ist Äthiopien nach Nigeria zwar das bevölkerungsreichste Land des Schwarzen Kontinents. Allerdings zählt es auch zu den ärmsten Nationen Afrikas. Rund dreißig Prozent seiner Einwohner leben noch immer unterhalb der bereits knapp bemessenen Armutsgrenze, verdienen also weniger als einen halben Euro pro Tag und Kopf. Zum Baubeginn der Schnellbahn betrug der jährliche Staatshaushalt umgerechnet gerade einmal sechs Milliarden Euro, in etwa das Anderthalbfache des saarländischen Landeshaushalts.

Daß Addis Abeba die horrenden Kosten der S-Bahn von über 400 Millionen Euro aufzubringen vermochte, verdankt die Stadt insbesondere China. Mit günstig verzinsten Krediten von 2,6 Prozent Rendite sprang Peking in die Bresche. Als Gegenleistung sicherte sich die ostasiatische Wirtschaftsmacht nicht nur den Bau des 34 Kilometer langen Schienennetzes, sondern gleich auch den kompletten Betrieb der Bahn.

Trotz alledem bleibt den Äthiopiern mehr als nur ein Grund zum Feiern. Denn nicht nur die Bahn allein beschert der im Straßenverkehr überlasteten Hauptstadt eine enorme Entlastung, wenn von diesem Oktober an täglich geschätzte 60.000 Pendler umweltschonend zur Arbeit und zu den Wohnblocks transportiert werden können. Mit Ticketpreisen von circa 20 Cent stellt sie für Hauptstadtverhältnisse auch eine preiswerte und somit jedermann zugängliche Alternative zum Auto dar. Überdies führt Addis Abeba für den AA-LRT ein für Schwarzafrika einmaliges, innovatives Bezahlsystem ein: mit elektronischen Tickets in Telefonkartengröße, welche bequem über eine App auf dem Smartphone erworben werden können. Die Software dazu stammt bezeichnenderweise ebenfalls aus Ostafrika; konkret aus den Hi-Tech-Schmieden des benachbarten Kenia.

Vom Wirtschaftsboom der schwarzafrikanischen Staaten profitiert das einst nur für seinen Tee und seine Tiere bekannte Savannenland auf einzigartige Weise: Allein seit der Verlegung des ersten internationalen Glasfaserkabels für Hochgeschwindigkeitsinternet im Jahre 2009 konnten sich einige tausend junge Nachwuchswissenschaftler zwischen Nairobi und Mombasa etablieren. Die Softwareunternehmen Kenias steuern mittlerweile rund drei Prozent des Staatshaushalts bei. Ginge es nach den Plänen der Regierung, sollen bis 2020 sogar über zehn Prozent der Einnahmen Kenias aus den Bereichen der Programmierung und Applikationsentwicklung stammen. Und bereits 2030, so die Verwaltung in Nairobi, stünde schlußendlich Konza City, das „Silicon Savannah“ Ostafrikas, vor seiner Fertigstellung, eine als Technologiezentrum auf dem Reißbrett geplante Stadt rund 65 Kilometer südlich Nairobis, deren Bau sich Kenia derzeit 13 Milliarden Euro kosten läßt und welche zum Ende über 100.000 Ingenieuren und Informatikern als Arbeitsplatz dienen soll.

Nairobi mauserte sich zum wichtigen IT-Standort 

Zur Finanzierung dieses Mammutprojekts steuern auch bedeutende Marken der Branche ihren Anteil bei. Bekannte Unternehmen wie Microsoft, Google und Facebook sind bereits seit längerem vor Ort in Afrika. Im November 2013 lagerte auch der IT-Riese IBM eine seiner derzeit wichtigsten Forschungseinrichtungen nach Nairobi aus. Unter dem Projektnamen „Lucy“, benannt nach einem der ältesten, im äthiopischen Afar-Dreieck gefundenen menschlichen Relikte, soll in den kenianischen Labors die kommenden zehn Jahre für eine Investitionssumme von rund 90 Millionen Euro an der Weiterentwicklung der künstlichen Intelligenz „Watson“ geforscht und diese an die örtlichen Probleme Ostafrikas angepaßt werden. Für IBM dient Lucy dabei nicht nur als Prestigeobjekt. Für den afrikanischen Markt erhofft man sich mit dieser Nähe zu rund einer Milliarde Konsumenten auch beträchtliche Gewinne.

„Im letzten Jahrzehnt konnte Afrika eine gewaltige Wachstumsgeschichte vorweisen“, berichtet Kamal Bhattacharya, der Entwicklungsvorstand von IBM Africa auf dessen Seite. „Aber noch immer stellen die Herausforderungen des Kontinents, angefangen vom Bevölkerungswachstum über Wassermangel und Krankheiten bis hin zu geringen bäuerlichen Erträgen ein Hindernis für das Wirtschaftswachstum dar. Doch mit seiner Fähigkeit, aus neuen Mustern zu lernen und neue Zusammenhänge zu entdecken, besitzt Watson ein enormes Potential für Afrika und kann dazu beitragen, in zwei Jahrzehnten das zu erreichen, wozu die entwickelten Märkte zwei Jahrhunderte benötigt hatten.“

In manchen Bereichen überflügelte Afrika seinen Konterpart in den Industrienationen. Bereits jetzt besitzen mehr Afrikaner pro Kopf ein Mobiltelefon als Europäer. Preiswerte Smartphones aus der in Europa weniger populären Lumia-Reihe erschließen auch dem Durchschnittsafrikaner die Internetwelt.

Allein in Kenia werden ein Drittel aller Geldtransaktionen, vom Wocheneinkauf bis hin zur Lohnzahlung, über Mobile Payment abgewickelt. Der Grund ist recht einleuchtend: Dem Land mangelt es an einer Infrastruktur an Geldautomaten. Die diesbezügliche App-Branche profitiert davon allerdings als Triebfeder des gesamtafrikanischen Wirtschaftsmotors: Allein zwischen 2012 und 2014 hat sich die Summe an Risikokapital für die afrikanischen Softwareschmieden von 35 auf 380 Millionen Euro mehr als verzehnfacht. Ein anhaltendes Wirtschaftswachstum in zweistelliger Höhe ist eine der positiven Folgen für Länder wie Kenia und Äthiopien. Allerdings auch eine bitter nötige: Denn in den kommenden zehn Jahren muß Afrika über 125 Millionen Jugendliche neu in den Arbeitsmarkt integrieren.

Foto: Die neue S-Bahn in Addis Abeba und das Foyer des Westgate-Einkaufstempels in Nairobi (r.): „Kenia ist unser Stolz. Die Zukunft unser Schicksal“