© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/15 / 09. Oktober 2015

Der Sound des Bockssängers
Debatte: Botho Strauß’ neue radikale Kritik an den Zeitläuften wirkt wenig überzeugend
Doris Neujahr

Es ist weder sonderlich originell noch überraschend, was Botho Strauß den Lesern in seinem als „Glosse“ überschriebenen Aufsatz „Der letzte Deutsche“ mitteilt, den der Spiegel unmittelbar vor den Einheitsfeiern veröffentlichte. Er klingt nur etwas endzeitlicher und melancholischer als seine vorangegangenen Texte zur Zeit.

Strauß konstatiert ganz richtig die „Flutung des Landes mit Fremden“, die wohl ihr „Fremdsein auf Dauer bewahren und beschützen“ werden. Er hadert mit der „politisierten Schmerzlosigkeit“, mit der die Deutschen ihre Selbstaufgabe vollziehen und das Ende ihrer Nation und der deutschen Nationalliteratur hinnehmen. Er nennt sie „die Sozial-Deutschen“, die ohne „kulturellen Schmerz“ existieren und die „geistige Heroengeschichte von Hamann bis Jünger, von Jakob Böhme bis Nietzsche, von Klopstock bis Celan“ verlernt hätten. Sie seien „nicht weniger entwurzelt als die Millionen Entwurzelten, die sich nun zu ihnen gesellen“. Ihm, dem „Subjekt der Überlieferung“, dem „letzten Deutschen“, und den wenigen Gleichgesinnten bleibe nur noch „die Hoffnung auf ein wiedererstarktes, neu entstehendes ‘Geheimes Deutschland’“.

Die Verbindung von Eliteanspruch, radikaler Kulturkritik und Leiden an den Zeitläuften durchzieht das gesamte Schaffen von Botho Strauß. Der Dichter argumentiert aus der literarischen und ästhetischen Sphäre und zielt auf die der Politik. Auch die hochartifizielle Schreibweise voller Metaphorik und assoziativer Verweise ist den Strauß-Lesern vertraut.

Es lassen sich Parallelen ziehen zu Hermann Hesses „Glasperlenspiel“ und zu Hölderlin, dessen „Hyperion“ der Autor garantiert im Hinterkopf hatte: „So kam ich unter die Deutschen. (...) Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede gutgeartete Seele, dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes ...“  

Der Spiegel verweist in seiner redaktionellen Vorbemerkung an den Aufsatz „Anschwellender Bocksgesang“, den Strauß 1993 dort publiziert und der für eine bis ins Hysterische ausufernde Diskussion sorgte. Damals hatten der massenhafte, heute sich vergleichsweise bescheiden ausnehmende Zustrom von Asylanten zu Unruhen und auch Anschlägen geführt, zumal das Land mit den Friktionen der Wiedervereinigung beschäftigt war. Als Reaktion fanden exzessive Selbstanklagen und Bußrituale statt, die in dem Ruf gipfelten: „Ausländer, laßt uns mit den Deutschen nicht allein!“ 

Strauß erkannte den Zusammenhang zwischen deutscher Neurose und drohendem Konfliktimport. Er sah „Vaterhaß“ und „psychopathischen Antifaschismus“ am Werk und meinte, daß die Toleranz derer, die heute Gutmenschen genannt werden, sich dem „verklemmten deutschen Selbsthaß verdankt, der den Fremden willkommen heißt, damit hier, in seinem verhaßten Vaterland, sich die Verhältnisse endlich zur ... (‘faschistoiden’) Kenntlichkeit entpuppen“. Diese Musterliberalen wollten nicht sehen, daß andere Völker noch immer bereit seien, ihr „Sittengesetz gegen andere zu behaupten“ und dafür auch „Blutopfer“ erbringen. Da die Geschichte nicht aufgehört habe, „ihre tragischen Dispositionen zu treffen“, werde der Krieg vielleicht „bloß auf unsere Kinder verschleppt“. Er forderte dazu auf, „den Bocksgesang in den Tiefen unseres Handelns“ zu vernehmen.

Eine Generation später kann er sich mehr als bestätigt fühlen. Die Verhältnisse haben sich – in anderer Weise zwar – brutal zur Kenntlichkeit entstellt. Die Frage ist nun, ob der alte Sound zu neuen Erkenntnisufern führt. Natürlich ist Strauß zu intelligent und sprachmächtig, um einen schlechten Text zu schreiben. Er teilt zahlreiche luzide Beobachtungen mit. Er kritisiert die westlichen Liberalen, die „immerzu alles zu ihrer Verurteilung“ vorbereiteten, indem sie auf die Verteidigung gegen den Islamismus verzichten. Er beschreibt eine Doppelbewegung: Einerseits wirke die Sehnsucht nach dem Zusammenbruch des Ancien régime, andererseits drücke die Verharmlosung „eine Umbenennung, Euphemisierung von Furcht, etwas magisch Unheilabwendendes“ aus.

Nein, ein krachender Zusammenbruch großer Reiche sei nicht zu erwarten, weil es ein „Fließgleichgewicht der Erde im Sinne kultureller Globalität“ gebe, so daß jeder Verlust zur Bereicherung umdefiniert werden könne. Strauß findet es abstrus, wenn von Neuankömmlingen die Akzeptanz der Schwulenehe als Voraussetzung ihrer Integration verlangt wird. Und die Linke, die das gelingende Leben auf die soziale Frage und die gelungene Umverteilung reduziere, sei damit gleichfalls dem Neoliberalismus verfallen.

So zustimmend man das alles liest, so wenig trägt die Schreibweise der gewollten Vagheiten und Mehrdeutigkeiten – bei denen es sich auch um Rückversicherungen handelt – zu neuen Einsichten bei. Im „globalen Fließgleichgewicht“ finden gewiß die Energien der Massengesellschaft zusammen, die sich grenzüberschreitend auf den kleinsten gemeinsamen Kultur-Nenner einigt. Es gibt daneben aber auch die Energien des globalisierten Kapitalismus, der Konzerne, Banken, Stiftungen, die diese Entwicklung ausdrücklich fördern. Wie hängt das wiederum zusammen mit der Sprachlosigkeit, mit der bodenlosen Dummheit der Debatten in Deutschland, das mit Denkern wie Martin Heidegger, Karl Jaspers, Carl Schmitt, Oswald Spengler oder Max Weber, ganz zu schweigen von Friedrich Nietzsche, einst die großartigsten Zeitanalysten hervorgebracht hat?

Was fängt man an mit Sätzen wie: „Ich möchte lieber in einem aussterbenden Volk leben als in einem, das aus vorwiegend ökonomisch-demographischen Spekulationen mit fremden Völkern aufgemischt, verjüngt wird, einem vitalen.“ Auf den Wunsch des Autors kommt es längst nicht mehr an. Nützlicher wäre es, die internationalen Machtverhältnisse zu analysieren.

Wenig überzeugend und in sich widersprüchlich ist die Gleichsetzung zwischen entwurzelten „Sozial-Deutschen“ und Neusiedlern, denen Strauß an anderer Stelle die unauflösliche Verwurzelung in ihrem Glauben attestiert. Wer weiß, was er ist und will, ist an Tat- und Durchsetzungskraft demjenigen überlegen, der ausschließlich in der Negation lebt – er wird ihn sich unterwerfen. Auch die Forderung nach Akzeptanz der „Schwulenehe“, die den Migranten abgefordert wird, ist ein Zeichen der Schwäche, denn sie enthält das indirekte Eingeständnis biologischer Zukunftslosigkeit und die Bitte um nachsichtige Behandlung.

Man müßte an diesem Punkt weitergehen und fragen, was es bedeutet, wenn Kinderlose und Homosexuelle in Politik und Medien überproportional vertreten sind und den Ton angeben. In den USA präsentieren Bewerber für politische Ämter sich der Öffentlichkeit gewöhnlich im Kreis ihrer gesamten Familie. Damit signalisieren sie: Ich stehe mitten im Leben und unmittelbar in der Pflicht. Die Verantwortung, von der ich spreche, ist eine ganz konkrete, und diese konkrete Verantwortung wird mich daran hindern, unkalkulierbaren Experimenten zuzustimmen, die das Leben meiner Kinder und Enkel mit unabsehbaren Risiken und Konsequenzen belastet. Natürlich können familiär Ungebundene von ihrer Situation abstrahieren und gleichfalls eine generative Perspektive einnehmen, doch diese Fähigkeit bleibt die Ausnahme. Die meisten transzendieren ihre private Situation im Zeichen des Minderheitenkults und kompensieren die ihnen versagt gebliebene Reproduktion, indem sie an der Erschaffung Neuer Welten und Neuer Menschen arbeiten.

Botho Strauß schreibt: „Uns wird geraubt die Souveränität, dagegen zu sein. Gegen die immer herrschsüchtiger werdenden politisch-moralischen Konformitäten.“ In dem Zusammenhang müßte man wenigstens den Satz eines Bundesministers zitieren, Deutschland sei seit 1945 ohnehin nicht mehr souverän.

Es mag ja sein, daß die „Rechten“, wie Strauß meint, im Irrtum sind, wenn sie glauben, es gäbe „noch Deutsche und Deutsches außerhalb der oberflächlichsten sozialen Bestimmung“ und ein wenig abschätzig hinzufügt: „Jenen Raum der Überlieferung von Herder bis Musil wollte noch niemand retten.“ Doch so schmerzfrei und gedankenlos, wenn ihre Lebenswelt umgepflügt wird, sind die Deutschen keineswegs, zumindest nicht alle. Während in der Spiegel-Ankündigung des Strauß-Aufsatzes geschwärmt wird, anders als 1993, als Brandsätze flogen, heiße diesmal „die Zivilgesellschaft die Fremden willkommen“, hat man auf der Leserbriefseite sehr genaue Vorstellungen von der „geradezu religiösen Raserei der Helfer“, die ein „peinliches Zeugnis der Eigenliebe, des sich Begeisterns am eigenen Gutsein“ ablegten.

Es wirkt, nebenbei gesagt, wenig souverän, wenn Botho Strauß sich die Medienhalluzinationen haßerfüllter Radikaler, die brandstiftend durch das Land ziehen, aneignet. Damit macht er seine Feststellung, der vordergründig gegen Fremde gerichtete Zorn ziele in Wahrheit auf die Zumutungen durch eine schwache Politik, zunichte. Viel nützt ihm das Zugeständnis an die Propaganda nicht. Die „gut schreiben könnenden Analphabeten“ (Strauß im „Anschwellenden Bocksgesang“) haben sich umgehend in Stellung gebracht und rügen das „Verscherbeln der Dichtung ans Dumpfe“ (Frankfurter Rundschau). Strauß sei „der allerletzte“ (Tagesspiegel). Doch Schwamm drüber!

Ein „Geheimes Deutschland“ aber wird sein Spektrum erweitern und die Kulturkritik unter anderem um Gesellschaftsanalyse, Wirtschafts-, Militär-,

Real- und Geopolitik erweitern müssen. In diesem Sinne ist „Der letzte Deutsche“ – ein Typus, der gar nicht so selten ist – Schlußpunkt und Auftakt zugleich.