© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/15 / 09. Oktober 2015

Brutale Gewalt als deutsches Trauma
Fremd im Kulturbetrieb: Matthias Wegehaupts Roman „Die Insel“ über vierzig Jahre DDR-Geschichte
Thorsten Hinz

Zehn Jahre nach seinem Erscheinen ist der tiefgründigste „Wende“- und Post-DDR-Roman „Die Insel“ von Matthias Wegehaupt noch immer nur ein Geheimtip, und das trotz lobender Rezensionen in der FAZ und der Neuen Zürcher Zeitung. Es ist bezeichnend, daß sogar Marcel Reich-Ranicki weder das Buch noch die in seinem Blatt erschienene Besprechung zur Kenntnis genommen hatte. 2009 antwortete er auf eine Leseranfrage: „Ich habe nie auch nur eine Zeile von diesem Wegehaupt gelesen, nie seinen Namen gehört, auch nicht in einem Nachschlagewerk gefunden. Haben Sie ihn vielleicht erfunden?“

Nun, Wegehaupt ist durchaus kein Phantom. 1938 in Berlin geboren, lebt er als Maler in Ückeritz auf Usedom. Ist es der gewaltige Umfang des Buches – immerhin 1.000 Seiten –, der seine allgemeine Bekanntheit verhindert? Gegen diese These spricht der Erfolg von Uwe Tellkamps Bestseller „Der Turm“ (2008), der kaum weniger umfangreich ist. Doch es gibt einen grundsätzlichen Unterschied. In Tellkamps Buch wird ein versöhnlicher, nämlich elegischer Grundton angeschlagen. „Die Trauer“ – um Schiller zu zitieren – fließt hier „aus einer durch das Ideal erweckten Begeisterung“ und sorgt für allgemeines Wohlgefallen. Das Ideal besteht in der von Richard-Strauss-Klängen durchwirkten, die Formen des Dresdner Rokoko nachempfindenden Bürgerlichkeit, die sich gegen die schäbige und feindliche Außenwelt des Sozialismus behauptet.

Die Leser im Osten konnten daran ihre Erinnerungen aufrichten und verschönen, und Leser im Westen, die sich als Vertreter der sogenannten Neuen Bürgerlichkeit fühlten, durften sich am Beispiel einer ästhetischen Existenz delektieren. Sogar der Gestank der Braunkohle schmeckt bei Tellkamp wie eine in Tee getauchte Proustsche Madeleine.

Zumutungen der Außenwelt und eigene Alpträume

Der „Turm“ bildet eine exterritoriale Provinz im Geiste. Dagegen ist Wegehaupts „Insel“ zwar ein äußerster Punkt  – wie Hiddensee, Rügen oder Usedom –, aber auch ein Konzentrat und ein Miniaturmodell des Landes. Alles ist hier vorhanden: der Staat und die Partei, die Stasi – als Staat im Staat –, die Grenzsoldaten, die an den Rand gedrängte Kirche und natürlich die Künstler in allen Schattierungen vom Parteiknappen bis zum Dissidenten sowie das maulende, letztlich aber parierende Volk. Die Handlung reicht vom Ende der fünfziger Jahre bis 1989/90, wobei Rückblenden ins Jahr 1945 zurückführen.

Tellkamps Sujet ist die Innenwelt scheinbarer Fluchtburgen. Wegehaupts Grundthema ist die brutale, unentrinnbare Gewalt, die bei der Gründung der DDR Pate stand und die alles transzendiert. Erst die Erfahrung physischer und psychischer Gewalt – im Dritten Reich, im Krieg, beim Einmarsch der Roten Armee und danach – erklärt die Geschichte des Landes und das Verhalten seiner Bürger. Sie ist das deutsche Trauma, das zum Staat geworden ist. So illusionsfrei hat sonst nur Heiner Müller über die DDR geschrieben.

Der Protagonist des Romans, Unsmoler, ist als Flüchtlingskind mit Mutter, Großmutter und Bruder auf die Insel gekommen. Der kleinen Restfamilie kommt das Maltalent des Jungen zugute. Da die Fotografien gefallener Männer und Söhne in Wehrmachtsuniform bei den Russen den Faschismusverdacht wecken, übermalt er sie und verpaßt den Männern Zivilanzüge. So wird zugleich die Vergangenheit verfälscht und gelöscht, in etwas Unaussprechliches, Tabuisiertes verwandelt und eine öffentliche Trauer unmöglich gemacht. Die Menschen mit ihren privaten Erinnerungen werden in die Heimlichkeit und in eine Schizophrenie getrieben. Aus dem „Lüttmoler“ (kleiner Maler) wird unterdessen „Unsmoler“ (unser Maler).

Die Erinnerung an 1945 steigt in ihm hoch, als sein Pferd die Steilküste hinabstürzt. Wie das Pferd Falada wird es zum Mittler zwischen der Welt der Lebenden und der Toten. Unter Anteilnahme der Dörfler wird es auf einem Hügel begraben, der an den Golm erinnert, die höchste Erhebung auf Usedom, wo Tausende Opfer des Bombenangriffs auf Swinemünde vom März 1945 in Massengräbern bestattet sind. „Wir konnten ihm nicht treu bleiben, aber das Pferd bleibt den Äckern hier treu. Es heißt, früher waren die Pferde den Menschen heilig. Wir müssen aufpassen, daß uns nicht die Maschinen heilig werden.“ 

Traumatisiert von erlittener Gewalt sind auch die Machthaber. Der Parteichef der Insel ist mehr bedauernswert als böse, in seiner Person verbindet sich Beschränktheit mit Idealismus. Grausige Bilder vom Kriegsende, als er in HJ-Uniform steckte und verheizt werden sollte, plagen ihn. Er möchte eine bessere, menschliche Gesellschaft auf der Insel errichten, doch alles Gutgemeinte schlägt zum Schlechten aus. Baumaßnahmen, die die Lebensqualität erhöhen sollen, zerstören den Charme der Insel und vergiften die Natur. Als in Berlin die Mauer gebaut wird, nimmt man den Inselfischern ihre Boote und damit einen Teil ihres Lebensinhalts weg. Die Insel ist endgültig zum „Menschenzoo“ und „Freigehege“ geworden.

Herr Akkurat und seine Frau wirken wie vorweggenommene Parodien des Tellkamp-Personals. Sie sind gleichfalls Maler, unter furchtbaren Umständen aus Ostpreußen geflüchtet und ängstlich darauf bedacht, keinen Anstoß zu erregen. Ohne der SED anzugehören, achten sie auf jedes Wimpernzucken der Macht. Die Akkurats stopfen ihr Haus mit Antiquitäten voll, auf daß „ein Wall von schönen Dingen“ sie vor den Zumutungen der Außenwelt und vor den eigenen Alpträumen schütze. Als ihnen endlich die ersehnte Reise nach London genehmigt wird, holt die Angst sie auch dort ein. Der Mann stirbt im Wachsfigurenkabinett der Madame Tussaud, wo er bereits wie ein Ausstellungsobjekt gewirkt hatte.

 „Lieber einen Honecker als einen Mullah“ 

Auch Unsmoler ist kein sympathischer Zeitgenosse: Er ist ruhelos, egomanisch, schwankt zwischen Rebellion und Kompromißbereitschaft und sucht vergeblich nach künstlerischer Vollendung. Ein abenteuerlicher Ausflug in den Westen desillusioniert ihn endgültig. Der Wert seiner Bilder wird nicht künstlerisch, sondern politisch und finanziell taxiert. Ihre exotische Herkunft aus der DDR bildet die Geschäftsgrundlage, die bei einer Übersiedlung verlorengehen würde. Im übrigen gilt auch hier: „Unsere Geschichten will niemand hören. Es sind Geschichten von Besiegten.“

Der allgegenwärtige „Mitarbeiter“ der Stasi personifiziert die Basisstruktur der Machtausübung, während die Partei – wie sich herausstellt – lediglich den Überbau, die ideologische Software, liefert und zunehmend an Bedeutung verliert.

Der Mitarbeiter ist es auch, der den neuen Herren die Insel als leergeräumte Immobilie übergibt. Er kann darauf vertrauen, daß sein Herrschafts- beziehungsweise Arkanwissen unter den veränderten Bedingungen erst recht gebraucht wird. „Auf jede Frage konnte der Mann fundiert Antwort geben. Er kannte die Besitzverhältnisse, die Wassertiefen, die sommerlichen Durchschnittstemperaturen (...) Er war forsch, braungebrannt, sportlich und gewandt. Er ähnelte denen, die mit ihm gekommen waren. Er gefiel ihnen.“ 

Das ist etwas anderes als Tellkamps „Turm“, wo die Glocken – „Deutschland einig Vaterland“ – eine bessere Zeit einläuten. Ein gefälliges Märchen für Erwachsene eben.

Wegehaupt hat in dem 2012 veröffentlichten Roman „Schwarzes Schilf“ wesentliche Motive aus der „Insel“ aufgenommen und zugespitzt. Sein zweiter Roman ist kein ganz großer Wurf mehr, im Zusammenhang mit dem Erstling aber in jedem Fall interessant. Hauptfigur ist ein Manager, der in der großen Finanzkrise die  Anstellung verliert und von Berlin nach Usedom, seiner Kindheitslandschaft, fährt, und zu einer Segeltour auf dem Stettiner Haff aufbricht. Wie Camus’ „Fremder“ bewegt er sich durch eine bewußtlose Welt voll von „perfekten Zeitgenossen, die niemals erwachsen werden, weil sie niemand aus ihrer komfortablen Rolle stößt“.

Die kollektive Infantilität hängt eng mit der Verkürzung und Moralisierung der eigenen Vergangenheit zusammen. Ereignisse aus dem Krieg, die in der „Insel“ nur angedeutet werden, werden explizit erwähnt und aus ungewohnter Perspektive kommentiert. Man findet Sätze wie: „Die Demütigung ist nur erträglich in Anerkennung einer totalen Schuld.“ Oder, gesperrt gedruckt: „Die Toten sind nicht tot. Sie sind nur unendlich traurig. Sie treiben in einem Meer von Schmerz und können nicht auf den Grund sinken.“

Über den Charakter des 1989 angebrochenen Zeitalters macht der Erzähler sich gleichfalls keine Illusionen: „Verdammt, hier wird man eines Tages schreien: Lieber einen Honecker als einen Mullah! Zu spät, Leute. Jetzt haben andere das Sagen, und die haben den Türken ins Land geholt. Der aber sagt: Anpassen an diese Schlappschwänze? Nein, danke, diese Milchbrötchen fressen wir lieber auf! Haben wir alles nicht geahnt 89. Sonst hätten wir uns das anders überlegt.“

Dem Romancier Matthias Wegehaupt geht es um Grundsätzliches. Weil er damit den weltanschaulichen Horizont der Bundesrepublik überschreitet, bleibt er in ihrem Kulturbetrieb ein Fremder.

Matthias Wegehaupt: Die Insel. Roman. List, Berlin 2010, broschiert, 1.024 Seiten, 14,99 Euro