© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/15 / 09. Oktober 2015

Impfen
Eine Diskussion im Wohlstand
Ira Austenat

Leider folgt die Debatte um eine Impfpflicht stets dem Alles-oder-nichts-Prinzip. Weniger Pauschalisierung wäre dringend erforderlich. Denn es besteht ein Unterschied zwischen zum Beispiel dem Keuchhusten eines Säuglings, den Masern oder einem Rotavirusdurchfall, obgleich alle drei impfpräventabel sind. Natürlich ist eine Durchfallerkrankung durch Rotaviren nicht wünschenswert. Aber sie ist therapeutisch gut beherrschbar. Ein Säugling mit Keuchhusten aber liegt im Zweifel tot im Bett! Denn zum Krankheitsbild gehören Atem­aussetzer. Studien zum Zusammenhang des plötzlichen Kindstodes mit dem Fehlen einer Keuchhustenimpfung haben dies in den USA immer wieder belegt.

Auch bei der Masernimpfung geht es nicht um das Verhindern von Fieber und roten Flecken, sondern um die Vermeidung einer lebensbedrohlichen Gehirnentzündung als Folge der Masernerkrankung. Beide Krankheiten sind nicht beherrschbar. Seltsamerweise erfreut sich die Rotavirusimpfung großer Beliebtheit, während über die Masernimpfung diskutiert wird. Psychologisch ist das erklärbar. Eine schwere Maserninfektion tritt seltener als eine Rotavirusinfektion auf. Die Angst entsteht also nicht aus eigenem Erleben.

In amerikanischen Studien wurde belegt, daß Eltern, die anhand konkreter Leidensberichte anderer Eltern über das Risiko einer potentiell tödlichen Infektionskrankheit aufgeklärt wurden, sich signifikant häufiger für das Impfen gegen diese Erkrankung entschieden als solche, die mit abstrakten „Impfen ist gut und wichtig“-Slogans versorgt waren.

Diese Beobachtung ist nicht neu. Als Behring den ersten Diphterieimpfstoff erfand, erhielt er dafür den Nobelpreis. Jedem war zu dieser Zeit bekannt, wie qualvoll ein Kind an dieser Krankheit versterben konnte. Da war die Sorge einer vorübergehenden Fieberreaktion nach der Impfung ein kleines Übel.

Unsere heutige Diskussion ist eine Wohlstandsdiskussion. Die gefährlichen Krankheiten sind durch die Effektivität vergangener Impfprogramme in Europa in ihrer Bedrohlichkeit aus dem kollektiven Bewußtsein verschwunden. Eltern wird hier von Impfgegnern eine Pseudosicherheit vorgegaukelt, die ein Ansteckungsrisiko verharmlost. Es wird ignoriert, daß die Erreger immer noch existent sind. An die Kurzsichtigkeit dieser Argumentation gemahnt die aktuelle Verlautbarung des Robert-Koch-Instituts (Berlin) zum Auftreten seltener Infektionen in Europa im Gefolge der Flüchtlingsströme aus Ländern mit desolater medizinischer Versorgung. Bemerkenswert ist, daß gerade die Kreise, die die moderne Schulmedizin auf dem Feld der Impfungen gern angreifen, im Falle einer Erkrankung der nichtgeimpften Kinder vornehm durch Schweigen und Abwesenheit auffallen. Die Haemophilusinfektion zum Beispiel verursacht neben einer bedrohlichen Kehlkopfentzündung mit massiver Luftnot und Erstickungsgefahr eine Hirnhautentzündung, die selbst bei optimaler Therapie tödlich endet oder im Falle des Überlebens eine schwere Behinderung hinterläßt.

Es sollten die Brandstifter sanktioniert werden, die mittels unsinniger und wissenschaftlich widerlegter Behauptungen Eltern bewußt verunsichern und sie in die Situation manövrieren, in vermeintlich bester Absicht genau das Falsche zu tun.

Die Impfgegner müssen die Konsequenzen ihres Tuns nicht ertragen. Sie leisten weder die Therapie der Erkrankung noch die Pflege des behinderten Kindes. Das überlassen sie denen, die die Infektion von vornherein gern ganz verhindert hätten: durch sicheres Impfen. Die aktuellen Bemühungen der Politik gleichen – wie so oft zu diesem Thema – dem Starten als Tiger und anschließender Landung als Bettvorleger: Am Ende der großen Worte wird die Pflicht zur Vorlage eines Impfberatungsscheines in der Kindertagesstätte beschlossen. Unwürdig des Landes von Behring und Virchow. Solcherart „Zettelfetischismus“ führt zu nichts.

Eltern haben Ängste. Das ist zu respektieren. Sie wollen, daß es ihren Kindern gut geht, sie weder Schmerzen noch Krankheit erleiden mögen. Die Diskussion um eine allgemeine Impfpflicht wird in einem freiheitlichen Rechtsstaat mit einer so ausgeprägten individuellen Betonung wie dem unseren nicht entschieden werden können. Stets wird es eine Güterabwägung zwischen der Freiheit des einzelnen und den Bedürfnissen der Gemeinschaft geben. Problemlos gelänge jedoch die Sanktionierung jener Brandstifter, die mittels unsinniger und wissenschaftlich seit Jahrzehnten widerlegter Behauptungen Eltern bewußt verunsichern und sie in die Situation manövrieren, in vermeintlich bester Absicht genau das Falsche zu tun: nämlich nicht zu impfen.






Dr. med. Ira Austenat, Jahrgang 1971, nach Studium und Facharztausbildung in den Universitätskinderkliniken Berlin und im Deutschen Herzzentrum arbeitet sie seit 1997 als niedergelassene Kinderärztin. Auf dem Forum schrieb sie zuletzt über Pränataldiagnostik („Um des Kindes willen“,  JF 37/15).