© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/15 / 09. Oktober 2015

Unbeirrt von linken Skandalisierungen
Nachruf: Vergangene Woche ist Alfred Schickel, langjähriger Leiter der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt, verstorben
Stefan Scheil

Im Lebenslauf mancher Historiker spiegelt sich die „Geschichte der Geschichte“ in der Bundesrepublik unmittelbar wider. Ihr Werk ist unmittelbar mit dem verbunden, was man heute Geschichtspolitik nennt und was die akademische Auseinandersetzung seit wenigstens dreißig Jahren prägt – wenn man freundlich formulieren will. Die Folgen sind bekannt. 

Viele Elemente der deutschen Vergangenheit, die bis weit in die achtziger Jahre zum Standard akademischer Fragestellung, zum unverzichtbaren Bestandteil geschichtlichen Allgemeinwissens oder zu den stetig erinnerten Fakten der großen Presseorgane gehörten, fielen bekanntlich seitdem dem Wirken entschlossener politischer Kräfte weitgehend zum Opfer. Für den Historiker und Publizisten Alfred Schickel bedeutete diese Entwicklung in den letzten Jahrzehnten eine ständige Gratwanderung zwischen öffentlicher Anerkennung und permanenter Skandalisierung. 

Spektakuläre Studie über die polnischen Kriegstoten

Daß Schickel zum Beispiel für seine Verdienste das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde, war dem linksengagierten Historikerkollegen Wolfgang Wippermann noch zwanzig Jahre später eine schäumende Polemik in der Wochenzeitung Der Freitag wert. Schickels Veröffentlichungen wurden darin für nichtexistent erklärt, jede alliierte Mitverantwortung für den Krieg von 1939 geleugnet, tschechische Vertreibungsverbrechen mit dem angeblich vorausgegangenen Verhalten der Sudetendeutschen gerechtfertigt – das im Jahr 2012 modisch Gewordene eben.

Das war nicht immer der Stand der Dinge. Schickel, selbst 1933 im böhmischen Aussig geboren, ließ sich nach der Vertreibung wie so viele des neuen, „vierten bayerischen Stamms“ im Freistaat nieder und studierte in München Philosophie und Geschichte. Nach und nach legte er ein umfangreiches Werk vor, das sich hauptsächlich mit der Weltkriegsära und in diesem Rahmen mit den deutschen Beziehungen zu den östlichen Nachbarvölkern beschäftigte. An die Zeit des Nationalsozialismus tastete er sich aber eher langsam heran. 1969 erschienen zunächst einmal im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung Abhandlungen über den Vertrag von Versailles und die Weimarer Nationalversammlung. Erst in den Siebzigern folgten dann Beiträge zur Vorgeschichte des deutsch-polnischen Krieges von 1939 und die spektakuläre Auseinandersetzung mit der Genese der von der polnischen Regierung angegebenen Zahl der polnischen Kriegstoten, die Schickel eindrucksvoll widerlegte.

Zusammen mit Hellmut Diwald gründete Schickel schließlich 1981 die Zeitgeschichtliche Forschungsstelle Ingolstadt, die er bis in diese Tage leitete. Was eine Basis für nachhaltige historische Forschung sein sollte, ließ sich auch als Notwehrhandlung deuten. Die hohe Zahl an Veranstaltungen und vorgelegten Publikationen der Forschungsstelle kann denn auch nicht darüber hinwegtäuschen, daß ihr die große Resonanz unter den gegebenen Bedingungen versagt blieb. Alfred Schickel ließ sich davon nicht beirren und hinterließ schließlich ein Werk, an das andere einmal anknüpfen können. Am 30. September 2015 ist er im oberbayrischen Kipfenberg verstorben.