© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/15 / 09. Oktober 2015

Der europäische Bürgerkrieg dauerte an
Der britische Historiker Keith Lowe betrachtet die Kriege und Konflikte in West- und Osteuropa, die erst lange nach dem 8. Mai 1945 endeten
Karlheinz Weißmann

Frage: Wie erklärt sich, daß ein Titel, der in Großbritannien als bestes historisches Sachbuch ausgezeichnet wird und der nach kurzer Zeit auf französisch und italienisch erscheint, erst mit drei Jahren Verspätung in Deutschland herauskommt? Antwort: Keith Lowe hat einen Aspekt der deutschen Geschichte behandelt, und das in einer Art und Weise, die die politisch-korrekte Betrachtung stört. Tatsächlich wird man sagen müssen, daß schon die Formulierung „Der wilde Kontinent – Europa in den Jahren der Anarchie“ und stärker noch die eigenwillige zeitliche Abgrenzung – 1943 und 1950 – die Konsenshüter irritiert haben dürften, daß sie aber vor allem ein Blick auf den Inhalt von Lowes Buch alarmieren mußte, der jede übliche Vorstellung von „Befreiung“, „Nachkriegszeit“ und dem Epochenjahr 1945 als Beginn einer neuen Ära des Friedens oder wenigstens der Stabilität problematisch erscheinen läßt.

Allgemeiner Kollaps der Moralvorstellungen

Faktisch hat Lowe ein Gesamtbild der Entwicklung auf dem europäischen Kontinent gezeichnet, wie sie zwischen der deutschen Niederlage bei Stalingrad und der kommunistischen Machtübernahme in Prag ablief. Seiner Meinung nach kann die Auffassung, daß es sich bei der systematischen Zerstörung von Städten und Landstrichen, bei den Massakern, Vertreibungen, Verschleppungen und bürgerkriegsartigen Konflikten, die diese Phase kennzeichneten, nur um die Folgen von Hitlers Tun oder um bedauerliche Kollateralschäden der alliierten Maßnahmen handelte, nicht aufrechterhalten werden. 

Weder ist er bereit, Roosevelt und Churchill grundsätzlich guten Willen zu unterstellen, noch Stalin durch den Hinweis zu entlasten, daß dessen Entscheidungen als Antwort auf die „faschistische Aggression“ entschuldbar seien. Für Lowe haben die „großen Drei“ im Gefolge der Konferenzen von Casablanca und Teheran gezeigt, daß sie nicht nur das NS-Regime und dessen Verbündete mit allen Mitteln niederwerfen wollten, sondern auch entschlossen waren, über das riesige Territorium, das sie in Besitz nahmen, nach Maßgabe ihrer Interessen und Vorstellungen zu verfügen.

Dementsprechend erscheint die Kapitulation der Wehrmacht bei Lowe nur als Episode, ein Vorgang, dem der Tod Roosevelts vorausgegangen war und die Abwahl Churchills folgte, ohne daß der Fortgang der Ereignisse auf struktureller Ebene, der dramatische Wandel von Verfassungssystemen, Ökonomie, Gesellschaftsaufbau und Mentalität, im mindesten gestört wurde. Zu dem Prozeß gehörten neben der Installation von Regimen nach westlichem oder östlichem Muster, Plünderungen und Enteignungen sowie großangelegte Annexionen durch die Sowjetunion, Polen und die Tschechoslowakei, weiter die von diesen und ihren Nachbarn durchgeführten ethnischen Säuberungen und Deportationen, deren Hauptopfer die Ost- und Volksdeutschen waren. 

In gewissem Sinn muß auch die Gefangensetzung der deutschen Soldaten in dem Kontext genannt werden, wobei Lowe die bestialische Behandlung durch die Sowjetunion und Jugoslawien betont, aber keineswegs übergeht, in welchem Maß die USA und Frankreich gegen das Kriegsrecht verstießen. Er weist ausdrücklich darauf hin, daß es die Entdeckung der in deutschem Namen begangenen Verbrechen bei Kriegsende war, die jedes alliierte Verbrechen als Racheakt – auch nachträglich – zu rechtfertigen „schien“, betont aber den Zusammenhang mit dem allgemeinen Kollaps der Moralvorstellungen. Lowe zitiert einen zeitgenössischen Beobachter, der von der Wiederkehr des „tierischen Überlebenskampfes“ sprach, der nicht nur in der völligen sexuellen Enthemmung zum Ausdruck kam, sondern auch im alltäglichen Diebstahl wie in der Gewöhnung an Raub, Vergewaltigung oder Mord.

Daß das Töten im Frühjahr 1945 nicht endete, hatte auch damit zu tun, daß über Europa eine Rachewelle hinwegging, die wirkliche oder vermeintliche Kollaborateure traf und jener latente Bürgerkrieg zum Ausbruch kam, der während der Zeit der deutschen Besatzung durch den gemeinsamen Kampf kommunistischer und nichtkommunistischer, vor allem nationalistischer, Partisanen überdeckt wurde. Seite an Seite hatten sie gegen die Okkupationsmacht gestanden, aber nie aus dem Blick verloren, daß es spätestens nach deren Niederlage darum gehen würde, sich gegen den Verbündeten von gestern zu wenden. 

Eine Darstellung jenseits germanozentrischer Norm

Sobald die brüchige Koalition zerfiel, gingen die Kommunisten in den sowjetisch besetzten Gebieten daran, ihre Konkurrenten zu verdrängen oder zu vernichten. Aufgrund von Stalins Unterstützung waren sie damit ausgesprochen erfolgreich, auch wenn Lowe in seinem vorletzten Kapitel auf die „Waldbrüder“ zu sprechen kommt, jene „weiße“ Guerilla im Baltikum, die zuerst mit der Wehrmacht gegen die Sowjetarmee, dann zum Teil gegen Wehrmacht und Sowjetarmee gleichermaßen und schließlich bis Mitte der fünfziger Jahre nur noch gegen die Sowjetarmee kämpfte.

Die Art und Weise, wie Stalin in Ostmittel- und Osteuropa seine Gegner ausschaltete und Satellitenstaaten errichtete, hat ganz wesentlich dazu beigetragen, daß US-Amerikaner und Briten die Vorgänge in ihrem eigenen Einflußbereich, vor allem in Frankreich, Italien und Griechenland, mit wachsender Unruhe beobachteten. Nach anfänglichem Zögern griffen sie massiv zugunsten der antikommunistischen Kräfte ein, auch wenn die beileibe nicht aus lupenreinen Demokraten bestanden. Was dazu führte, daß der Vormarsch der „Volksarmee“ auf Athen im vorletzten Augenblick scheiterte, während in Frankreich wie Italien die seit 1945 von den Kommunisten in manchen Landesteilen geschaffenen roten Zonen zurückerobert werden konnten.

Lowes Buch liefert eine Darstellung, die dazu beitragen kann, die übliche, das heißt germanozentrische und moralisierende Sicht zu korrigieren. Seine Sicht der Dinge hat außerdem den Vorteil, neben dem Aspekt des „Europäischen“ oder „Weltbürgerkriegs“ den Machtkonflikt als solchen stärker in den Mittelpunkt zu rücken und deutlich zu machen, daß, abgesehen von den Frontlinien zwischen Kapitalismus, Kommunismus, Faschismus, noch andere existierten, deren Einfluß auf den Gang der Ereignisse bereits während des Zweiten Weltkrieges nicht zu unterschätzen ist. 

So gesehen war das Einmünden des Zweiten Weltkriegs in den „Kalten Krieg“ der Supermächte kein Betriebsunfall der Geschichte, sondern die logische Konsequenz eines Zusammenpralls feindlicher Ideologien und entgegengesetzter geopolitischer und wirtschaftlicher Interessen, die in Europa letztlich ältere Konflikte zwischen Nationen, Volksgruppen und Eliten überlagerten. Dieses Verdienst Keith Lowes ist in jedem Fall zu betonen, wenngleich es geschmälert wird durch die Ungenauigkeiten, die teilweise oberflächliche Ursachen-ermittlung und gewisse Pauschalurteile, zu denen sich der Autor immer wieder hinreißen läßt.

Keith Lowe: Der wilde Kontinent – Europa in den Jahren der Anarchie. Klett-Cotta, Stuttgart 2015, gebunden, 526 Seiten, Abbildungen, 26,95 Euro

Fotos: Ukrainische Opfer eines Angriffs polnischer Nationalisten auf Wierzchowiny, östlich von Lublin, im Juni 1945 (o.): Ältere Konflikte zwischen Nationen, Volksgruppen und Eliten; Entlassener polnischer Kriegsheimkehrer bettelt um Nahrung, Potworow, südlich von Warschau, 1945: „Tierischer Überlebenskampf“; Französischer Kollaborateur wird gelyncht, 1944: Alte Rechnungen; Litauische Partisanen, um 1950: „Waldbrüder“ gegen Stalin