© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/15 / 16. Oktober 2015

Die instabile Republik
Asylkrise I: Das Zerwürfnis zwischen CSU-Chef Seehofer und Bundeskanzlerin Merkel könnte die Union in den Abgrund stürzen
Paul Rosen

Die Bundesrepublik ist instabil geworden. Das Sommermärchen, als Hunderte am Münchener Hauptbahnhof standen, „Refugees are welcome“ riefen und Mineralwasser vom Discounter verteilten, ehe sie zu ihren Villen in den Stadtteil Grünwald zurückfuhren, ist vorbei. Behörden und Hilfsorganisationen sind überfordert, die Politik ist es so sehr, daß der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Horst Seehofer von „Notwehr“ spricht. Das ist nahezu unvorstellbar. Eine staatliche Instanz, die bayerische Staatsregierung, wirft einer anderen, der Bundesregierung in Berlin, rechtswidriges Verhalten in der Flüchtlingsfrage vor.

Damit befindet sich Deutschland in einer Staatskrise, von zusammenbrechenden Gemeindeverwaltungen bis hin zu Bundesbehörden, die nicht wissen, wo sich rund 300.000 eingereiste Ausländer genau in Deutschland aufhalten. Gesetze werden hunderttausendfach mißachtet, das staatliche Gewaltmonopol längst in Frage gestellt. „Die Lage in Deutschland ist sehr nervös und fragil“, sagt inzwischen selbst Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), bisher eine der tragenden Säulen des Kabinetts. Es sei schlichtweg „unmöglich“, den Zustrom von 10.000 Neuankömmlingen pro Tag zu bewältigen. Bundeskanzlerin Angela Merkels Handeln ist nur mit einer Endzeitstimmung zu erklären, die die Regierung erfaßt haben muß. Einen Ausweg sucht sie in Propaganda. In Interviews wiederholt sie ihr Diktum „Wir schaffen das“ gebetsmühlenartig und schließt Steuererhöhungen aus. Doch die Kanzlerin wirkt erratisch. Auf konkrete Fragen nach Grenzterminals und Aufnahmestopp fragt sie zurück: „Ja, wie soll das funktionieren?“ Und wenig später stimmt sie der CSU-Forderung nach Transitzonen zu, die von der SPD sofort als „Massenlager im Niemandsland (Justizminister Heiko Maas) abgelehnt werden. Einen Tag später stellt sie Transitzonen als nicht besonders wirksame Maßnahme dar. 

Merkel erntet mit ihren Aussagen – und das ist neu – offenen Widerspruch in der Koalition. So bezeichnet Seehofer die Äußerung der Kanzlerin, 3.000 Kilometer deutsche Grenze seien nicht zu kontrollieren, als Kapitulation und droht: „Kapitulation gehört nicht zum Instrumentenkasten der bayerischen Staatsregierung.“ 

Der Riß geht quer durch die Union

Das Verhältnis zwischen CSU und CDU war nicht immer freundlich, schon Franz Josef Strauß pflegte oft zu poltern. Aber von „Notwehr“ und „Kapitulation“ hat noch nie ein CSU-Chef gesprochen.  

Seehofers Not ist besonders groß, weil seine CSU in den Umfragen bereits in den Keller rauscht und die Alternative für Deutschland (AfD) sich zweistelligen Prozentwerten in Bayern nähert. Es muß so schlimm sein, daß der Parteichef sogar den Sprechern des bei der Führung bisher weitgehend ignorierten „Konservativen Aufbruchs“ eine Audienz gewährte – nur 60 Minuten, aber immerhin (siehe Meldung auf dieser Seite). 

Bundesweit sah es für die Union zunächst besser aus. Die Werte blieben über 40 Prozent. Manche CDU-Funktionäre liebäugeln noch mit der Vorstellung, die AfD könnte im nächsten Jahr in die Landtage von Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz einziehen, damit rot-grüne Mehrheiten verhindern und die SPD in Große Koalitionen zwingen. Inzwischen ist aber auch die CDU in den Sog sinkender Umfragewerte geraten, Merkels Beliebtheitswerte brechen zusammen. Ein Schreiben von rund 30 mittleren CDU-Funktionären macht deutschlandweit Schlagzeilen. Sie werfen der Kanzlerin Rechtsbruch vor: „Die gegenwärtig praktizierte Politik der offenen Grenzen entspricht weder dem europäischen oder deutschen Recht, noch steht sie im Einklang mit dem Programm der CDU. Ein großer Teil der Mitglieder und Wähler unserer Partei fühlt sich daher von der gegenwärtigen Linie der CDU-geführten Bundesregierung in der Flüchtlingspolitik nicht mehr vertreten.“

In der Unionsfraktion spitzt sich die Lage zu. Der Innenpolitiker Hans-Peter Uhl (CSU) fordert: „Die Bundesregierung muß endlich geltendes Recht umsetzen, indem die Einreise aus dem sicheren Drittstaat Österreich verweigert wird. Wer sich um jeden Preis vor häßlichen Bildern der Zurückweisung an den Grenzen fürchtet, wird bald noch häßlichere Bilder aus deutschen Innenstädten und Flüchtlingsunterkünften bekommen.“ Uhls Äußerungen zeigen eine neue Qualität in der CDU/CSU. Noch nie wurde der Kanzlerin mit so deutlichen Worten aus der eigenen Fraktion schwerer Rechtsbruch vorgeworfen. 

Und wie Uhl denken viele, auch wenn nach einem Treffen von Merkel mit Innenpolitikern Beruhigungspillen ausgegeben wurden. Der Riß geht quer durch die CDU und auch die CSU, wo einige sich immer noch einen Karriere-schub mit Merkel erhoffen. Daher lautet die Frage nicht, ob CSU und CDU getrennte Wege gehen, was Seehofer auch strikt ausschließt: „Wir müssen zusammenbleiben.“ Sondern die Frage lautet, ob es die Union insgesamt zerreißen wird. Handlungsfähig erscheint noch die Bundestagsfraktion. Nur wenn sie die offenbar den Staat und sich selbst aufgegeben habende Merkel jetzt stürzt, kann die Union davor bewahrt werden, dem Weg ihrer italienischen Schwesterpartei in den Abgrund zu folgen.