© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/15 / 16. Oktober 2015

Blutige Botschaften des Friedens
Türkei: Kurz vor der Parlamentswahl erschüttern Terroranschläge die Haupstadt / Kritische Fragen an den türkischen Geheimdienst
Marc Zoellner

Es war als Marsch für den Frieden gedacht und endete in einem Blutbad: Zehntausende türkische Bürger, viele von ihnen kurdischer Herkunft, hatten sich vergangenen Samstag auf dem Platz vor dem Hauptbahnhof der Hauptstadt Ankara versammelt, um gegen die anhaltenden Kämpfe der Türkei mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK zu demonstrieren. Plötzlich, gegen zehn Uhr früh, detonierte die erste Bombe. Ein Attentäter sprengte sich unter „Allahu Akbar!“-Rufen in der Menge in die Luft. Kurz darauf folgte eine weitere Explosion; ein zweiter Selbstmordanschlag riß Helfer und Fliehende von den Beinen, ermordete Dutzende Demonstranten.

Die Bilanz des Tages sieht dementsprechend verheerend aus. Fast hundert Tote und 250 Verletzte waren offiziellen Angaben zufolge an jenem Wochenende zu beklagen. Die Kurdenpartei HDP, eine der Organisatorinnen der Veranstaltung, sprach sogar von bis zu 130 Ermordeten und weit über 500 zum Teil lebensgefährlich Verwundeten.

Opposition fürchtet  sinkenden Einfluß 

„Diese Zusammenkunft sollte eine Botschaft von Frieden, Demokratie und Brüderlichkeit in der Türkei verbreiten“, berichtete der türkische Journalist und Demonstrationsteilnehmer Faruk Bildirici noch am selben Abend dem Nachrichtensender Al Jazeera. „Doch der Anschlag verhinderte, daß das Volk seine Botschaft auch überbringen konnte.“

Vom „schmerzhaftesten Zwischenfall in der Geschichte der Türkischen Republik“ sprach kurz darauf auch Ahmet Davutoglu. „Der Angriff in Ankara zielt auf unsere Einheit, auf unsere Demokratie, auf unseren Frieden“, so der türkische Premierminister. 

Präsident Recep Tayyip Erdogan kündigte eine dreitägige Staatstrauer an. Viele Ämter blieben bis Dienstag geschlossen. Überdies verordnete der Oberste Rundfunk- und Fernsehrat der Türkei (RTÜK) umfangreiche Zensurmaßnahmen hinblicklich der Berichterstattung über den Anschlag, maßgeblich auf sozialen Netzwerken wie Twitter und Facebook. 

Doch nach dessen strikten Vorgaben schienen sich die türkischen Medien diesmal nicht mehr richten zu wollen. Gegenteilig keimen immer mehr zivile Unruhen im kleinasiatischen Nato-Mitgliedsstaat auf. Von Istanbul bis Diyarbak?r demonstrierten erneut Zehntausende Menschen, diesmal allerdings gegen die Politik der türkischen Regierung, gegen das rigorose Vorgehen der Sicherheitskräfte sowie gegen Erdogan persönlich. Vielerorts ging die Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern gegen die Protestler vor.

Doch wichtige Fragen bleiben nach dem Terrorakt noch immer offen: Wer waren die Attentäter, wem nützt ein solches Massaker? „Wie kann eine so gewaltige Bombe mitten im Zentrum unserer Hauptstadt explodieren?“ klagte Selin, eine 32 Jahre junge Lehrerin, vergangenen Sonntag auf einer Protestveranstaltung in Ankara der Nachrichtenagentur Reuters. Die Antwort gab sie sich selbst: „Der Geheimdienst, die Polizei und die Sicherheitsbehörden scheinen wohl zu beschäftigt damit zu sein, die Leute zu finden, die kritische Beiträge gegen Erdogan auf Twitter posten.“

Nicht mehr nur im Umfeld der HDP verdächtigen türkische Bürger nun ihre eigene Regierung, den Doppelanschlag von Ankara zumindest stillschweigend zugelassen zu haben, um im Vorfeld der türkischen Parlamentswahl am 1. November AKP-kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Auch in konservativen Kreisen gerät der Innengeheimdienst MIT zunehmend unter Kritik. Doch dieser wehrt sich mit der Veröffentlichung erster Indizien: Zwar seien die DNA-Analysen der Angreifer noch nicht abschließend ausgewertet worden, erklärten Ermittler zu Wochenbeginn. 

Es erhärtete sich jedoch der Verdacht, daß eine „Die Unsterblichen“ genannte und dem Islamischen Staat zugehörige Zelle in die Anschläge involviert gewesen sein könne. Hauptverdächtiger sei der Bruder jenes Attentäters, welcher bereits im Juli in Suruç 32 Menschen mit sich in den Tod riß.