© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/15 / 16. Oktober 2015

Pankraz,
U. Schacht und die Botanisiertrommel

Platon denkt ein Gedicht“ heißt der neue Lyrikband von Ulrich Schacht (Edition Rugerup, Berlin 2015, broschiert, 137 Seiten, 19,80 Euro), und der Leser ist zunächst erstaunt, ja fast pikiert. Denn Platon verachtete alle Formen von Poeterei, Verse, rhythmisches Sprechen, hielt sie für Vorhänge, die die Wahrheit eher verhüllen denn anzeigen. Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, in Gedichten zu denken, und Schacht weiß das natürlich. Weshalb dann trotzdem der rätselhafte Titel?

Die Lektüre gibt zunächst wenig Aufschluß. Eines der ersten Stücke, über dem der Buchtitel extra noch einmal als Individualtitel erscheint, lautet: „Ein Mond Licht der März / Wald in der Nacht // Schatten Stamm um / Stamm. Dazwischen , dunkler // Noch: die / Stille“ Kein Punkt am Ende. Die Satzzeichen folgen nicht grammatikalischen Regeln, sondern es sind Töne, die gleichberechtigt neben den tönenden Wörtern stehen, mindestens gleichberechtigt: Es sind – die Feststellung ist nur scheinbar paradox – Töne der Stille.

Schachts Naturgedichte sind den japanischen Haikus verwandt, jener primären Gestalt fernöstlicher Lyrik, die ebenfalls von Haus aus ernst, sehr ernst gemeinte „Naturlyrik“ ist, die also aus der Natur keinen bloßen Roman macht, nicht schlicht von Naturphänomenen „erzählen“, sie mit Wörtern abbilden will, sondern der es darum geht, selber Natur zu werden. Dazu aber, sagten die alten Haiku-Poeten und sagt ihr moderner Verbündeter Schacht, ist es nötig, mit Wörtern einen Raum der Stille zu erzeugen, einen Resonanzraum, in dem der Dichter mit der Natur auf Augenhöhe verkehren kann.


Tatsächlich lehrt ja jeder Blick auf den aktuellen Kulturbetrieb (und nicht zuletzt auf die vielen neuen „Naturbücher“ auf der Buchmesse), wie laut und banal unser Umgang mit der Natur geworden ist. Gewiß, man will sie vor den Exzessen der modernen Technik, vor Zerstörung und Vermüllung, schützen; andererseits tut man alles, um sie immer mehr unseren Feierabendbedürfnissen anzupassen, sie mit Postkartenansichten zu verwechseln, sie auf spielende Fuchs- oder Murmeltierkinder vor ihrem Bau zu reduzieren.

„Regentonnenvariationen“ hieß voriges Jahr ein Band mit Naturlyrik von Jan Wagner, der von der Kritik schier zu Tode gejubelt wurde. Es war ein Buch über Weidenkätzchen und Würgefeigen, Morcheln und Eulen und Fischotter, wortreich beschrieben und mit einigen ökologischen Seufzern versehen. Kein Leser gewann freilich den Eindruck, daß alle diese schönen Sachen heutzutage ruchlos in die Regentonne geschmissen werden, vielmehr drängte sich das Bild von der Botanisiertrommel auf. Der Autor sammelte in seinem Gärtchen alle möglichen Natureindrücke ein, um sie zu Hause in Bildchen umzusetzen.

Verglichen mit solcher Regentonnenpoesie wirkt Schachts Band „Platon denkt ein Gedicht“ geradezu wie Sirenengeheul bei Luftalarm. Schacht weiß, daß die Natur letztlich stets die Überlegene ist – und niedlich à la Fuchswelpe allenfalls an der Oberfläche. Erinnerung an die alte, unheimliche Sindbadgeschichte aus Tausendundeiner Nacht treibt ihn um, wo sich Schiffbrüchige auf eine hübsche kleine Palmeninsel retten, auf der es köstliche Früchte gibt, zwitschernde Vögel, jagdbares Rehwild im Wald und einen Quell dortselbst.

Wie aber die Schiffbrüchigen ein Feuer machen, um sich an ihm zu wärmen und ein Reh zu braten – siehe, da krümmt sich der Boden, und die Palmen zersplittern. Denn die Insel war der Leib eines riesigen Kraken. Jahrhundertelang hatte er über dem Meeresspiegel geruht, nun brannte das Feuer auf seinem Rücken, und er tauchte unter, „so daß alle Schiffer ertranken“, wie Scheherazade erzählt.

Man kann Scheherazades Kraken ohne weiteres mit der Natur gleichsetzen. Sie bringt nicht nur unzählige Formen des Lebens hervor, sondern sie ist – inklusive ihrer „toten“ Feuerschlünde und Sonnenheere – selber höchst lebendig, eine Schöpferkraft ohnegleichen, ein „Natursubjekt“, wie der Philosoph Ernst Bloch einst schrieb. „Gott“, wie der Naturlyriker  Ulrich Schacht es sagt, ausdrücklich im Anschluß an den  barocken Hamburgischen Politiker und Naturlyriker Barthold Heinrich Brockes (1680–1747).


Von Brockes stammt das Epochenwort „Aufklärung“. In seinem berühmten Gedichtband „Irdisches Vergnügen in Gott“ von 1727 steht es wohl zum ersten Mal da, und es steht da in einem Zusammenhang, der nichts mit der heute gängig gewordenen Wortbedeutung zu tun hat. Die Stelle lautet:  „Aufklärung heißt der Weg, den die Natur uns weiset. / Wir streben hin zu Gott, den jedes Wesen preiset“. Aufklärung ist da also wachsende Erleuchtung auf dem Weg hin zur Gott-Erkenntnis – aber als vorrangiges Vehikel dazu wird die Natur kenntlich gemacht, somit die genaue, leidenschaftliche Beobachtung aller Vorgänge in „freier Natur“.

Genaue, leidenschaftliche Beobachtung heißt nun allerdings nicht „Platon denkt“. Für Platon, den großen Vordenker der abendländischen Tradition, waren einzig die Ur-Ideen, der Tanz der abstrakten Begriffe und die ihn antreibende, mathematisch inspirierte Logik wirklich erkenntnisleitend. Alle sinnlich-ästhetischen Eindrücke und Empfindungen liefen letztlich auf Abweichung hinaus. Brockes hat dem widersprochen, und alle großen Naturlyriker, von Petrarca bis Ungaretti, von Goethe bis Peter Huchel, haben oder hätten ihm spontan zugestimmt.

Natürlich gehört auch Ulrich Schacht in diese Reihe. Seit vielen Jahren schon lebt er in Schweden und hat sich dort, wie Kollegen scherzend, aber auch bewundernd über ihn sagen, zum „Inselsammler“ entwickelt: Soeben ist von ihm im Berliner Aufbau-Verlag ein Buch über die isländische Insel Grimsey erschienen, die direkt auf dem nördlichen Polarkreis liegt und wo die Frühlinge spät kommen und ihr Zwitschern fein und bedachtsam ist.

Die Lektüre von Schachts neuem Gedichtband zeigt: Dieser Dichter versteht es, sich am Eise zu wärmen. Und „Wer in der Stille einsam ist, weiß frei zu atmen“.