© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/15 / 16. Oktober 2015

„Trinken Sie Scotch?“
Das Heerlager der Heiligen: Zu Besuch bei dem französischen Autor Jean Raspail
Katharina Puhst

Funktioniert der Fahrstuhl nicht?“ hallt es durch das Treppenhaus. Im vierten Stock angekommen, begrüßt mich der französische Schriftsteller Jean Raspail in seiner Wohnung im 17. Arrondissement von Paris. Wie lebt der Autor zahlreicher Romane, darunter „Das Heerlager der Heiligen“, der heute stolze 90 Jahre zählt und folglich den starken Wandel der Zeit miterlebt hat? Mit dieser Frage betrete ich den offenen Vorraum, an den sich das Wohnzimmer anschließt. „Ich habe eine Vorliebe für Schiffe“, erklärt der Herr mit leuchtenden Augen, gefolgt von einer schwingenden Handbewegung in die vier Himmelsrichtungen. In der Tat überziehen unzählige Schiffe die zitronengelben Wände, ganz gleich ob in Flaschen aufgehängt oder auf Gemälden. Obwohl das helle Tageslicht hereinfällt, brennen allerlei Lampen und Kerzen. Jean Raspail mag die Dunkelheit nicht. 

Wir sinken in gelbe Ledersessel. Madame Raspail bereitet Kaffee zu, bevor sie sich zurückzieht. Monsieur und Madame siezen sich, eine Form des Respekts und der Achtung, wie sie heute leider verloren ist, schreibt der Autor in „Der letzte Franzose“. Alsdann lernen Jean Raspail und ich einander bei Kaffee und Macarons, süßen Gebäckstücken, kennen. Als der Autor von seinen Reisen berichtet, blitzt weniger Stolz hervor als vielmehr ein Bewußtsein für das Erlebte, welches seinen Lebensweg geprägt hat. Dieser führte ihn von Japan über Nordamerika bis nach Patagonien. Inmitten des Raumes sitzend, beginnen die Wände zu sprechen: Über dem Sofa sowie hinter dem Eßtisch zieren zwei von seiner Frau gestickte Wandbilder, die von seiner Reise nach Alaska und der Kanufahrt (1949) entlang des Mississippi erzählen.

Wir beginnen mit dem Interview über „Das Heerlager der Heiligen“. Währenddessen zieht Raspail abwechselnd kräftig an einer Zigarettenspitze und tupft sich den Mund mit einem Stofftaschentuch ab, das anschließend wieder in der Brusttasche verschwindet. Er ist stattlich gekleidet, gleichermaßen klassisch wie zeitlos, und von einer gediegenen Vornehmheit, die mir Respekt zukommen läßt. Sein faltiges Gesicht ist wie ein Buch gefüllt von tausend Seiten, die darauf warten, demjenigen etwas mitteilen zu dürfen, der danach fragt. 

Auf meine Frage, wie seine Romane entstanden sind, antwortet Raspail: „Ich habe niemals an der Universität studiert. Alles, was ich studiert habe, befindet sich hier.“ Dabei deutet er erneut auf die Wandstickereien. „Beim Schreiben handelt es sich um eine Gabe. Eine Gabe, die einem gegeben und zu einem bestimmten Zeitpunkt genommen wird.“ Bedauernd fügt er hinzu, seine Gabe mittlerweile verloren zu haben. 

Nach anderthalb Stunden ist das Interview beendet. Immer wieder blickt Raspail auf seine Armbanduhr: „Ach, es ist noch ein wenig zu früh. Folgen Sie mir, ich führe Sie durch meine Wohnung.“ Vor einem kleinen Tisch am Fenster bleiben wir stehen. Jean Raspail nimmt eine kleine Plastikfigur in die Hand, zieht sie auf, setzt sie auf die Fläche ab, woraufhin sie rückwärts Purzelbäume schlägt. „Schauen Sie genau her, der Kleine kann noch zwei Runden schlagen! Wenn er sie schafft, ohne umzukippen, weiß ich, daß der Tag gut wird. Doch fällt er um, weiß ich, daß es ein verlorener Tag ist“, erklärt er. Ich beobachte die kindliche, ja, fast abergläubische Freude des 90jährigen. Der Hase hüpft noch ein letztes Mal und landet auf beiden Hinterpfoten, bevor der Mechanismus erlahmt.

Wir begeben uns ins Schreibzimmer, in dem eine prächtige Bibliothek untergebracht ist, die sich bis in den Flur erstreckt. Die Bücher sind nach der Nationalität ihrer Autoren geordnet. Die deutschen Namen kommen nicht zu kurz: Allen voran das Werk von Ernst Jünger, gefolgt von Ernst von Salomon („Der Fragebogen“), Eduard von Keyserling, Thomas Mann („Der Auserwählte“), Heinrich von Kleist, Joseph Roth sowie August von Kageneck. Eine große Zahl von Geschichtsbüchern über Deutschland, das Dritte Reich und Preußen. „Deutschland hat eine wunderbare und einzigartige Geschichte“, bekundet Raspail neben dem Holzstuhl mit den Löwenköpfen. In der Ecke neben dem Schreibtisch befindet sich ein großer Globus im Holzgestell. Kurz gleitet der Finger des Autors über die Länder, als würde er Staub entfernen und damit einige Erinnerungen auffrischen. Empfindet er Nostalgie?

Er deutet auf seine eigenen Werke in rotem Ledereinband, die vier Regalbretter ausfüllen. Stets in greifbarer Nähe. „Was könnte ich Ihnen noch zeigen?“ sinnt Jean Raspail laut nach, während mein Blick auf den vielen kleinen Objekten ruht, die den Raum füllen. Zwischen den Büchern steht ein Miniaturauto, es ist dasselbe Modell wie der Erstwagen seines Vaters. Münzen, Zeichnungen, Aquarelle von Schiffen und Orten sind überall im Zimmer verteilt. Es handelt sich um Andenken an Reisen. Jeder Kleinigkeit wohnt für Raspail eine Bedeutung inne. Es sind keine zufällig erworbenen Dinge, sie wurden bewußt ausgesucht. Alle haben sie im Raum ihren Platz, füllen ihn aus und lassen ihn leben. Es scheint, als habe Raspail nie aufgehört zu reisen. Vergleichsweise dazu gibt es wenige Fotografien, die Menschen zeigen.

Erneut schaut er auf die Uhr, es ist später Nachmittag. „Trinken Sie Scotch?“ Wenige Minuten später erzählt Raspail mir mit einem Glas in der Hand von Patagonien. Er berichtet von der Geschichte des Landes, von seinen Erlebnissen mit den Indianern, die in seinem Roman „Sie waren die ersten: Tragödie und Ende der Feuerlandindianer“ ihren Platz gefunden haben. Jean Raspail hegte bereits in jungen Jahren ein Interesse für das Land und ist mittlerweile Konsul von Patagonien.

Der Nachmittag geht schnell in den Abend über. Ich sitze da, höre zu, beobachte den Autor und denke, daß er trotz des pessimistischen Grundtons, der in vielen seiner Bücher Ausdruck findet, alles andere als verzweifelt wirkt. „Ich bin ein fröhlicher Pessimist“, entgegnet er mir mit einem herzlichen Lachen. Jean Raspail scheint mit seinen 90 Jahren zufrieden und ausgeglichen.