© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/15 / 16. Oktober 2015

Kauzige Charaktere, haarsträubende Ereignisse
Große Geschichte mit vielen Details: Jonathan Franzens handlungsdürftiger Roman „Unschuld“
Markus Brandstetter

Jonathan Franzen (Jahrgang 1959) ist im Moment vielleicht der berühmteste amerikanische Schriftsteller überhaupt. Franzen hat nur vier Romane geschrieben, aber die sind dick wie Ziegelsteine, verkaufen sich wie warme Semmeln und werden von den Kritikern schier in den Himmel gelobt. Für Sam Tanenhaus von der New York Times ist Franzen „the greatest living American novelist“. Jede Menge andere Kritiker sind sich darin einig, daß Franzen eine Art Tolstoi des 21. Jahrhunderts darstellt, daß er einer der ganz wenigen Autoren ist, der Geschichten erzählen kann wie die Romanciers des 19. Jahrhunderts, der psychologisch überzeugende Charaktere zu erschaffen vermag wie Flaubert, und dem es ganz nebenbei auch noch gelingt, so spannend zu schreiben wie Dostojewski. Und auch Franzens vierter Roman, der den Titel „Unschuld“ trägt, führt seit seinem Erscheinen vor ein paar Wochen schon wieder die Bestsellerlisten an.

Wird einer derart über den Schellenkönig gelobt, dann fragt man sich: Was ist da dran? Ist der wirklich so gut, und wenn ja, warum?

Fangen wir mit der Geschichte an. Die Hauptfigur ist eine junge Frau namens Purity („Reinheit“) Tyler, die im Jahr 2013, in dem die Handlung des Romans spielt, 23 Jahre alt ist und in Oakland, dem schmuddeligen Gegenstück von San Francisco, lebt. Kalifornien ist ja die Gegend auf der Welt, wo Millionen gutverdienender, veganer und extrem liberaler Menschen leben, die alle nur eines wollen: die Welt jeden Tag ein bißchen besser machen.

Die Handlung ist an den Haaren herbeigezogen

Purity denkt auch liberal, ernährt sich ebenfalls vegan und will die Welt auch verbessern. Deshalb verkauft sie Menschen, die keine Ahnung haben, am Telefon sauberen Strom und Steuervorteile, obwohl beide Versprechungen faustdicke Lügen darstellen, was die intelligente, gerissene, nach außen hin aber schüchtern und unerfahren wirkende Purity ganz genau weiß. Im Gegensatz zu all den glücklichen Menschen, von denen sie umgeben ist, hat Purity drei Probleme: Sie hat kein Geld, sie mag ihre Mutter nicht, und sie weiß nicht, wer ihr Vater war. Geld hat sie deshalb keins, weil sie sich mit 140.000 Dollar verschuldet hat, um die Universität zu bezahlen. Ihre Mutter, eine streitsüchtige, hypochondrische und von tausend Ängsten geplagte Öko-Schrulle, mag sie nicht, weil diese eine armselige, eremitenhafte Existenz in einer Hütte ohne Heizung führt und ihre Tochter über ihre Vergangenheit systematisch belügt. Und von ihrem Vater weiß sie nur, daß der ein gewalttätiger Charakter war, der Puritys Mutter Anabel das Leben zur Hölle gemacht hat. 

In diese Malaise platzen zwei Dinge, die Puritys Leben auf den Kopf stellen werden: erstens der coole, intelligente und witzige Jason, ein junger Mathematiker, den Purity etwas klischeehaft beim Kaffeetrinken kennenlernt; und zweitens die deutsche Annagret, die Purity ein Praktikum bei dem mysteriösen, in Bolivien beheimateten Sunlight Project anbietet. Das Sunlight Project ist Franzens Version von Wikileaks: eine von Hackern betriebene Online-Plattform, auf der Geheimnisse von Konzernen, Regierungen und dem Militär ins Internet gestellt werden. Scheinbar gegründet, um Fortschritt, Offenheit und Transparenz zu fördern, ist Sunlight in Wirklichkeit nur dazu da, seinen Gründer, den charismatischen und weltberühmten Andreas Wolf, seines Zeichens Ex-DDR und Ex-Dissident, stets mit frischen Frauen zu versorgen.

Purity („Pip“) fährt nach Bolivien, um Geld zu verdienen und mit Hilfe der Sunlight-Hacker Hinweise auf ihren Vater zu finden. In der bolivianischen Pampa trifft sie auf einen Harem von fünfzig jungen Frauen, die nacheinander durch das Bett des Oberhackers zirkulieren. Als die Reihe an Pip ist, verweigert sie sich. Rachsüchtig und tief beleidigt schickt Andreas Wolf Pip daraufhin nach Denver zu einem gewissen Tom Aberant, der im Internet eine Enthüllungszeitung betreibt, die Politskandale aufdeckt.

Nebenfiguren mit seitenlangen Biographien

Jetzt nimmt das Buch Fahrt auf, denn dieser Tom Aberant ist in Wahrheit Pips Vater, was inzwischen zwar der Leser, aber nicht die Figuren des Buches wissen. In langen Rückblenden kommen nun die Geschichten hinter der Geschichte ans Licht: Andreas Wolf hat 1989 einen Stasi-Spitzel umgebracht und Tom Aberant, der damals zufällig in Berlin war, hat ihm beim Verscharren der Leiche geholfen. Pips Mutter Anabel war in den 1980er Jahren mit Tom Aberant verheiratet und ist in Wahrheit die elternlose Erbin eines Milliardenvermögens, das sie aber nicht annimmt, da ihre Familie ihr Geld mit Viehzucht, Genmais und Schlachthöfen verdient hat. In Denver spielt Pip – ohne es zu wissen – auf die Computersysteme von Toms Online-Zeitung eine Spionage-Software auf, die es Andreas Wolf in Bolivien erlaubt, Tom komplett zu überwachen. Tom findet alles heraus und fährt, lodernd vor Zorn, zu Wolf nach Bolivien. Der gibt alles zu, behauptet, mit Toms Tochter im Bett gewesen zu sein, und stürzt endlich während des großen Showdowns von einem Felsengipfel, was Tom im Internet unverzüglich als Selbstmord verkauft.

Im letzten Kapitel lebt Pip wieder in Oakland in einer WG schräger Vögel, eröffnet ihrer Mutter, daß sie deren wahre Identität kennt und vom Riesenvermögen der Familie weiß, und verliebt sich nun ernsthaft in Jason, der praktischerweise im selben Café wieder aufkreuzt. Am Schluß bringt Pip ihren Vater und ihre Mutter besuchsweise wieder zusammen, aber als sie mit Jason von einem Schäferstündchen zurückkehrt, um ihren Verlobten endlich ihren Eltern vorzustellen, da schreibt Franzen: „Als sie die Wagentür öffneten, hörte sie die Stimmen. Das Schreien. Den Klang nackten Hasses.“

Franzen erzählt da eine große Geschichte, in die er von der DDR-Staatssicherheit über Wikileaks über verschwundene Atomsprengköpfe bis zur antikapitalistischen Mentalität amerikanischer Milliardärssprößlinge und ihrer schrägen Töchter einiges hineingerührt hat, was die Gemüter bewegt. Aber es ist des Guten zuviel. Die vielen Details – jede Nebenfigur wird mit seitenlanger Komplettbiographie eingeführt –, die rasiermesserscharfen, aber immergleichen Dialoge, die eigentlich nur aus Fragen, Gegenfragen und Binsenweisheiten („Die russische Mafia ist die Regierung“) bestehen, die comichaft überzeichneten Personen – im ganzen Buch findet sich kein normaler Mensch – und die an den Haaren herbeigezogene Handlung – das alles genügte, um zu beweisen, daß Franzen weder ein moderner Tolstoi noch ein Flaubert ist.

Alle wollen nur Gutes tun, doch das ist reine Fassade

Ein moderner Dickens oder Balzac schon eher. Mit Charles Dickens teilt Franzen eine Vorliebe für stereotype, vorpsychologische Figuren, kauzige Charaktere, unwahrscheinliche Zufälle und haarsträubende Ereignisse. Ständig müssen dem Leser narrative Zuckerstücken, Rosinen und kandierte Früchte präsentiert werden, die über die langweilige Handlung und das dürftige Innenleben des Personals hinwegtäuschen sollen.

Einige Kritiker haben „Unschuld“ als eine Gleichsetzung von DDR, Stasi und Internet verstanden und das als die zentrale These des Romans begreifen wollen. Das würde ihnen so passen; wenn Unschuld überhaupt eine Moral hat, dann die: Die Welt und das Leben sind eine vollkommen zynische Angelegenheit. Alle wollen immer nur Gutes tun, doch das ist eine reine Fassade. Die ganzen Veganer, Pazifisten, Antikapitalisten, Internet-Aufdecker, Online-Enthüller und Graswurzeldemokraten sind nichts anderes als ein machtgieriges Pack, das nach außen zwar immer so tut als ob, in Wahrheit jedoch aus einem Haufen von Zynikern besteht, die genau dasselbe wollen wie alle anderen auch: Sex, Macht und Geld. 

Daß dies tatsächlich Franzens Hauptthese ist, sieht man auch daran, daß der einzige sympathische Charakter in dem ganzen Buch Anabels Milliardärs-Vater ist, während der pädophile frühere DDR-Dissident und jetzige Internet-Aktivist Andreas Wolf seine Enthüllungsplattform im rechtsfreien Bolivien nur deshalb betreibt, damit er möglichst viele junge Frauen in sein Bett bekommt.

Jonathan Franzen: Unschuld. Roman. Rowohlt, Reinbek 2015, gebunden, 832 Seiten, 26,95 Euro