© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/15 / 16. Oktober 2015

Deutsche Befindlichkeiten
„Ich bin schuld!“
Konrad Adam

Fritz Stern, der in Breslau geborene, später nach Amerika emigrierte Historiker, war zusammen mit seinem Freund Raymond Aron in Berlin unterwegs, als Aron angesichts eines Trümmerhaufens plötzlich stehenblieb und unvermittelt in einem leicht melancholisch gestimmten Tonfall bemerkte: „Schade, es hätte Deutschlands Jahrhundert werden können.“ Stern empfand ähnlich: Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts sei Deutschland ein dynamischer Staat auf dem Wege nach oben gewesen. Nicht nur seine Wirtschaftskraft und seine militärische Stärke, sondern auch sein Bildungsstand und sein wissenschaftliches Niveau hätte das Kaiserreich über seine Nachbarn hinausgehoben. Niemals sei Deutschland der Aussicht, zur prägenden Kraft Europas zu werden, näher gewesen als damals.

Davon ist nichts geblieben. Gleich zweimal ist Deutschland im 20. Jahrhundert gescheitert, beide Male katastrophal. Betrogen um den Platz an der Sonne, den der Kaiser ihm vorschnell versprochen hatte, war das Land durch den Vertrag von Versailles gedemütigt und dauerhaft geschwächt worden; nicht so weit allerdings, daß es nicht fähig gewesen wäre, den Griff nach der Weltmacht noch einmal zu riskieren. Nachdem auch dieser zweite Versuch mißlungen war, viel gründlicher sogar noch als der erste, standen die Deutschen mit leeren Händen da. Von einer Niederlage dieser Art erholt man sich nicht so bald, meinte der nüchterne Ernst Jünger, als er amerikanische Panzer durch die Straßen von Hannover rollen sah. Er sollte recht behalten.

Denn diesmal saß die Lektion. Mit jener Gründlichkeit, die immer wieder als ihr Wesensmerkmal beschrieben worden ist, zogen die Deutschen aus einer Niederlage ohnegleichen eine beispiellose Konsequenz. Das deutsche Volk, hatte Heinrich Heine mit seinem Gespür für nationale Eigenheiten bemerkt, lasse sich nicht leicht bewegen; „ist es aber einmal in irgendeine Bahn hineinbewegt, so wird es dieselbe mit beharrlicher Ausdauer bis ans Ende verfolgen“. So auch jetzt. Nachdem sie der Volksvergottung durch die Nazis überdrüssig geworden waren, versuchten es die Deutschen mit der Volksverachtung. Man habe sie entweder an der Gurgel oder an den Füßen, hatte Churchill gesagt. Nun also an den Füßen.

In dieser Lage hat man es schwer, Identität, Kultur und Leitkultur zu entwickeln. Wie schwer, zeigte Joschka Fischers aberwitzige Empfehlung, Auschwitz zum Dreh- und Angelpunkt des deutschen Selbstbewußtseins zu machen. Jedes Land, meinte er, habe seine Gründungslegende: Franzosen und Engländer ihre mehr oder weniger blutigen Revolutionen, die Amerikaner ihre Unabhängigkeitserklärung, die Italiener das Risorgimento und die Irredenta: lauter Wegmarken auf dem Weg zu nationaler Größe. So etwas fehle den Deutschen, für sie bleibe da nur Auschwitz. Ein Massenverbrechen als Gründungslegende der Nation? Als Quelle dessen, was Patriotismus oder Vaterlandsliebe, Nationalbewußtsein oder Identität heißt?

Richard Rorty hatte es besser getroffen, als er sagte, Nationalstolz sei für ein Land etwa das, was Selbstachtung für jeden einzelnen bedeute: eine notwendige Bedingung für die Selbstverbesserung. Diesen Ausweg haben sich die Deutschen gründlich verbaut, die Älteren durch ein Zuviel, die Jüngeren durch ein Zuwenig an Selbstachtung und Selbstbewußtsein. Daß Auschwitz und alles, wofür der Name steht, zur deutschen Geschichte gehört, steht außer Frage; Identität stiften kann der Name aber nicht. Denn Identität verlangt ja mehr als bloßes Wissen, mehr als Schuldbewußtsein und Sühnebereitschaft. Identität verlangt Zustimmung und Einverständnis; und das erlaubt Auschwitz eben gerade nicht. Wer will sich schon mit einer Mörderbande identifizieren?

In der „Einen Welt“ wird sich zusammen mit dem Blick fürs Fremde dann auch die Wahrnehmung des Eigenen, Bekannten und Gewohnten verloren haben; mit ihr auch die Achtung, Zuneigung und Liebe: wo das eine fehlt, bleibt für das andere kein Platz.

Nun, die Deutschen. Sie lieben den Exzeß und gehen gern aufs Ganze. Deswegen haben sie die Verantwortung für ihre Untaten kollektiviert, ja sogar erb­lich gemacht. Aus vielen Einzeltätern haben sie ein ganzes Tätervolk geschmiedet, maßlos in seiner Schuld und maßlos in seiner Sühne. Das hebt sie über die anderen, die „schuldlosen“ Völker hinaus und begründet ihr schwarzes, böses, negatives Nationalgefühl. Mit ironischer Hochachtung für ihre Neigung zum Bekennen und Bereuen sprach der britische Historiker Tony Judt vom Sünden- und vom Sühnestolz der Deutschen: ihr schlechtes Gewissen ist die Voraussetzung für ihr gutes. Das deutsche Selbstbewußtsein schöpft aus beiden Quellen und ist deswegen dauerhaft labil.

„Ich bin schuld!“ stand auf dem T-Shirt eines jungen Mädchens, das sich einem der Demonstrationszüge angeschlossen hatte, die in Deutschland immer dann unterwegs sind, wenn ein Banner zu entrollen, eine Lichterkette zu bilden oder eine Mahnwache zu errichten ist. Der Slogan steht für ein vagabundierendes Schuldbedürfnis, das nach allem Möglichen greift – und oft genug dann eben auch daneben. Als ein Asylant im Hof der Unterkunft, die er zusammen mit ein paar anderen bewohnte, tot aufgefunden wurde, dauerte es keine Stunde, bis die Antifa die Täter gefunden hatte und öffentlich ausrief: Alt-Nazis, Neo-Nazis oder Latenz-Nazis sollten ihren Haß ausgelebt und zugestochen haben.

Die Polizei brauchte etwas länger, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen und den Schuldigen zu entdecken: einen Heimbewohner, flüchtig aus Eritrea. Er war mit dem Opfer in Streit geraten, hatte sich mit ihm geprügelt und dabei kräftig zugelangt. Als das bekanntgegeben wurde, war es für die Wahrheit aber schon zu spät. Die Sünden- und Sühnestolzen waren fündig geworden und ließen nun nicht mehr locker. Der selbstbewußte Deutsche ist gern schuldig, egal woran.

Deshalb entschuldigt er sich auch gern, egal wofür. Auf seinen Dienstreisen durch Afrika hat Joschka Fischer Untaten bereut, die zu begehen die Deutschen keine Gelegenheit mehr hatten, weil ihnen die alliierten Siegermächte die Last der Kolonialverwaltung abgenommen hatten. Schuldig zu sein oder zu werden, ist im Nachkriegsdeutschland zu einer Art Volkssport geworden, der nichts verlangt und deshalb auch von Leptosomen ausgeübt werden kann – als Lohn winken Preise, Fördergelder, die Anerkennung durch die Medien und der Ehrentitel des mündigen Bürgers.

In jedem anderen Land würden Leute, die mit dem Ruf „Nie wieder Deutschland“ durch die Straßen ziehen, als Deppen wahrgenommen, die es zu ihrem Unglück in die Politik verschlagen hat. Sie könnten mit Achselzucken, auf Mitleid und Empörung rechnen, auf mehr aber auch nicht. Anders in Deutschland. Hier werden sie als wache Zeitgenossen gewürdigt, die aus der Geschichte gelernt, Gesicht gezeigt, Einsatz bewiesen, Verantwortung übernommen hätten. Und so weiter.

Wo das zur Regel wird, ist Selbstbewußtsein ausgeschlossen. Ganz einfach deshalb nicht, weil die Grenze fehlt, die das Eigene vom Fremden, Ungewohnten, Unvertrauten trennt. Nietzsche schreibt 1881 in einem Brief an seinen Freund Heinrich Köselitz, er wolle eine Zeitlang „unter Muselmännern leben“, um seinen Blick, sein Auge und sein Urteil für alles Europäische zu schärfen. In der „Einen Welt“, von der die Statthalter des Guten träumen, wird so etwas nicht mehr möglich sein. Zusammen mit dem Blick fürs Fremde wird sich dann auch die Wahrnehmung des Eigenen, Bekannten und Gewohnten verloren haben; mit ihr zusammen auch die Achtung, Zuneigung und Liebe: wo das eine fehlt, bleibt für das andere kein Platz. Alle Willkommenskulturen werden daran nichts ändern, sie werden ganz im Gegenteil gerade das ruinieren, was zu erhalten und zu kultivieren sie vorgeben. Die Europäische Union, die unter Solidaritätsappellen Mißtrauen sät, Hilfe verweigert und Grenzen schließt, führt das zur Zeit in eindrucksvoller Weise vor.

Der Augenblick ist gekommen, die alles entscheidenden Fragen endlich zu stellen und zu beantworten. Und zwar so, daß auch die Kinder noch in dreißig oder vierzig Jahren nicht ins Stottern kommen, wenn sie gefragt werden, was das denn sei: deutsch.

Von dieser Krise fühlen sich die Deutschen besonders hart und ungerecht betroffen. Sie bangen um die Ersatzidentität, mit der sie die leere Stelle hatten füllen wollen, die der Verlust des Nationalgefühls hinterlassen hatte. Kein Volk hat die Rolle des Muster-Europäers so leidenschaftlich und unter höheren Opfern gespielt als sie. Der Glaube an die größere Gemeinschaft sollte sie für das entschädigen, was sie im eigenen Land verboten hatten: für das Bewußtsein, als Deutsche nichts Besonderes, aber etwas Bestimmtes zu sein.

Ersatz-Identitäten sind jedoch fragil, ob und wieviel sie taugen, zeigt sich erst in der Krise; und die ist nun da. Mit dem Euro, der die Deutschen für ihren DM-Nationalismus entschädigen sollte, wankt auch ihr Glaube an Europa; insoweit hat Angela Merkel mit ihrer platten Formel vom Euro, mit dem zusammen auch Europa scheitern müsse, schon recht. Allerdings nur für die Deutschen. Und auch nur deshalb, weil die Deutschen stolz genug waren, ein Gefühl zu verdammen, auf das keiner ihrer Nachbarn verzichten will.

Stolz sind die Deutschen nämlich immer noch. Allerdings nicht mehr auf das, was früher diesen Stolz genährt haben mochte, auf ihre Sprache und ihre Musik, ihre reiche Kultur und ihren evangelischen Glauben. Stolz sind sie darauf, daß sie mit ihrer Vergangenheit gebrochen haben und alles, was sich vor dem 30. Januar 1933 ereignet hat, zur Vorgeschichte des Dritten Reiches zählen. Sie glauben, ohne die vielen Selbstverständlichkeiten auskommen zu können, die ein gemeinsames Erbe mit sich bringt, und machen ernst mit der Konstruktion einer Gesellschaft, in der das Ganze nicht mehr, sondern weniger ist als seine Teile.

Die Nachkriegsdeutschen, schrieb der frühere SPD-Generalsekretär Peter Glotz, hätten den Übermut des Staates, der über der Gesellschaft schweben wollte, endlich gebrochen, „wahrlich ein deutsches Wunder“. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte sei den Deutschen der Sprung in eine Zeit gelungen, in der das Teil mehr gelte als das Ganze: „Wir mußten das große Tier zähmen. Es ist uns gelungen.“ Das Tier ist allerdings nicht zahm, sondern bloß fett geworden: fett, unfruchtbar und dumm wie der Ochs vorm Berge.

Sollte das Gerede von den Herausforderungen, die mächtig auf uns einstürmen und allenthalben zu bestehen sind, ernst gemeint sein, dann wäre der Augenblick gekommen, die alles entscheidenden Fragen: wer zu uns gehören soll, und wer nicht; wem wir vertrauen können, und wem nicht; wen wir willkommen heißen wollen, und wen nicht – diese viel zu lang verdrängten Fragen jetzt endlich zu stellen und zu beantworten: selbst zu beantworten, nicht stellvertretend von irgendwelchen Brüsseler Kommissaren beantworten zu lassen. Und zwar so, daß auch die Kinder noch in dreißig oder vierzig Jahren nicht ins Stottern kommen oder verlegen dreinschauen müssen, wenn sie gefragt werden, was das denn sei: deutsch.

Um die Antwort zu finden, sollten sie sich weniger auf ihren Verstand als auf ihr Gefühl verlassen: auf ein Gefühl, das weiter zurückreicht und tiefer wurzelt als der ephemere Stolz auf einen Sieg im Fußballspiel oder die Weltmeisterschaft im Export von Autos. Kurt Tucholsky hat das so beschrieben: „Es gibt ein Gefühl jenseits aller Politik, und aus diesem Gefühl heraus lieben wir unser Land. Wir lieben es aus tausend Gründen, die man nicht aufzählen kann, die uns nicht einmal bewußt sind.“

Dies Gefühl wächst ganz von selbst, man darf es nur nicht hindern oder kappen. Denn wir werden es brauchen als notwendige Bedingung zur Selbstverbesserung.






Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, Publizist, war Feuilletonredakteur der FAZ und bis 2007 Chefkorrespondent der Welt. Adam ist einer der Mitbegründer der Alternative für Deutschland. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Redeverbote und Politische Korrektheit („Die ganze Freiheit soll es sein“, JF 6/15).

Foto: Wolfgang Mattheuer, „Unschlüssig“, Holzschnitt, 1977: „Ersatz-Identitäten sind fragil, ob und wieviel sie taugen, zeigt sich erst in der Krise; und die ist nun da“