© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/15 / 16. Oktober 2015

Väter des Schuldkults
Vor siebzig Jahren leitete die „Stuttgarter Schulderklärung“ die Vergangenheitsbewältigung theologisch ein
Karlheinz Weißmann

Die Stuttgarter Schulderklärung vom 18. und 19. Oktober 1945 gehört nach offizieller Lesart zu den großen Leistungen des deutschen Protestantismus der Nachkriegszeit. Aus Anlaß des 70. Jahrestags hört man kein kritisches Wort, bestenfalls eins, das darauf hinweist, es sei die Feststellung der deutschen Schuld nicht weit genug gegangen. 

Die Wahrnehmung hat sich damit – innerhalb wie außerhalb der evangelischen Kirche – radikal verändert. Denn die Öffentlichkeit reagierte bei Bekanntwerden mehrheitlich negativ, und einige der Unterzeichner gingen nachträglich auf Distanz, als deutlich wurde, in welchem Maß das Votum politisch ausgebeutet und mißbraucht werden konnte.

Zu nennen ist in dem Zusammenhang vor allem Theophil Wurm, Landesbischof von Württemberg und gerade gewählter Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Wurm hatte während der Zeit des Kirchenkampfes eine vermittelnde Position zwischen konservativen Lutheranern, „Neutralen“ und Anhängern der „Bekennenden Kirche“ (BK), insbesondere der Gefolgschaft Martin Niemöllers, eingenommen. Dabei waren auch Zugeständnisse gegenüber dem Reichskirchenministerium und den regimetreuen „Deutschen Christen“ unvermeidbar gewesen. 

Seine Linie versuchte Wurm nach dem Zusammenbruch fortzusetzen, sah sich dabei allerdings zunehmend unter dem Druck der BKler, die eine innerkirchliche Revolution verlangten und mehr oder weniger offen mit Spaltung drohten, während die Lutheranern zum Rückzug auf eine eigene Kirche neigten. Schon während dieser Auseinandersetzungen war es zu einer Diskussion über die Frage gekommen, ob und wenn ja in welcher Form ein Schuldbekenntnis der Kirchenführung abzugeben sei. Der Widerstand dagegen schien – unter dem Eindruck von Kriegszerstörung, fortgesetzter Vertreibung und Übergriffen der Besatzungstruppen – massiv, aber die Befürworter konnten ihre Position nach und nach stärken. Eine wesentliche Rolle spielte hier offen und verdeckt der Schweizer Theologe Karl Barth, ein enger Vertrauter Niemöllers. 

Karl Barth war der maßgebliche Strippenzieher 

Barth, der 1933 seinen Lehrstuhl in Bonn aufgeben und in seine Heimat zurückkehren mußte, war wieder nach Deutschland gekommen und gehörte faktisch zur Spitze der BK. Ihn leitete die Auffassung, daß es nicht ausreiche, den Nationalsozialismus auszumerzen, sondern daß der deutsche Nationalgeist preußischer Prägung, der von Friedrich dem Großen über Bismarck zu Hitler geführt habe, ausgerottet werden müsse. Nur dann könnten die Deutschen, „aller anderer Völker mit Recht verhaßter und bekämpfter Feind“, in den Kreis der Zivilisierten zurückkehren und sich der Entwicklung hin zu einer Gott wohlgefälligen politischen Ordnung – bestimmt von Demokratie und Sozialismus – anschließen.

Die Position Barths war auch deshalb von großer Bedeutung, weil er engen Kontakt zum Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) in Genf hielt. Das Zusammentreffen der EKD-Führung mit einer Delegation des ÖRK in Stuttgart war seit dem Spätsommer geplant worden. Schon im Vorfeld hatte der Generalsekretär des Ökumenischen Rates, der Niederländer Willem Visser’t Hooft, die Forderung nach einer Schulderklärung aufgegriffen. Nur im Fall einer öffentlichen Anerkennung der deutschen Schuld sei eine Wiedereingliederung des deutschen Protestantismus in die Gemeinschaft der Kirchen möglich, und nur unter dieser Bedingung denke man daran, sich bei den Alliierten für das deutsche Volk in seiner schweren Lage einzusetzen.

Der doppelte Bezug – auf die Kirche wie die Nation – ist auch dem dann veröffentlichten Text zu entnehmen, der den Teilnehmern, von kleinen Korrekturen Wurms abgesehen, bei der Tagung in Stuttgart fertig vorgelegt wurde. In dessen erstem Absatz hieß es, daß man sich „mit unserem Volk nicht nur in einer großen Gemeinschaft der Leiden“ wisse, „sondern auch in einer Solidarität der Schuld. Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“

Die Formulierungen gehen wahrscheinlich auf Niemöller, möglicherweise auch auf dessen Freund Hans Asmussen, zurück. Auffallend ist ihre Uneindeutigkeit, vor allem in bezug auf das „Wir“, von dem die Rede ist. Die zugrundegelegte Vorstellung, daß die Kirche eine Art Sprecherrolle für das Volk übernehme, konnte man durchaus traditionell deuten, das setzte aber die – kaum haltbare – Annahme voraus, daß die Deutschen noch als „christliches Volk“ im strengen Sinne angesehen werden konnten. 

Wahrscheinlicher war, daß sich auch hier die Theologie Barths bemerkbar machte, der in reformierter Tradition vom Wächteramt der „Christengemeinde“ gegenüber der „Bürgergemeinde“ ausging. Wirklich geklärt wurde das aber nie, so wenig wie die Frage, an wen sich das Bekenntnis eigentlich wandte und von wem man unter welcher Bedingung Lossprechung und Vergebung erwartete. Sicher spielten theologische Details für die breite Öffentlichkeit kaum eine Rolle. Der heftige Widerspruch innerhalb wie außerhalb der Gemeinden, der nach der Publikation des Textes folgte, hatte vielmehr mit der Autorität der Kirchenführer und der Wortwahl zu tun, die als Bestätigung der alliierten „Kollektivschuldthese“ wie als Rechtfertigung von Internierung, summarischer Entnazifizierung und Umerziehung gelesen werden konnte.

Daß diese Kritik so weit nicht hergeholt war, hat Karl Richard Ziegert in einer minutiösen Rekonstruktion der Abläufe von Stuttgart deutlich gemacht, die zu einem verblüffenden Ergebnis kommt: Die Aktion Schuldbekenntnis stand unter der Steuerung des OSS. Der OSS, das Office of Strategic Services, Vorläufer des amerikanischen Geheimdienstes CIA, hatte zu der Zusammenkunft nicht nur „Offiziere für religiöse Angelegenheiten“ geschickt, um den Vorgang zu kontrollieren, er verfügte mit Visser’t Hooft sogar über einen Akteur vor Ort. 

Nach dem Zeugnis des in dieser Frage sicher unverdächtigen Eugen Gerstenmaier leitete Visser’t Hooft schon während des Krieges eine Stelle des britischen beziehungsweise niederländischen Geheimdienstes am Sitz des ÖRK in Genf. Ihm gelang es im Zusammenspiel mit Niemöller und Barth, nicht nur den Text durchzusetzen, sondern gleichzeitig jede Einflußnahme anderer auszuschalten. 

Zu denen gehörte vor allem George Bell, der Bischof von Chichester, der schon während des Krieges in Großbritannien immer wieder für Deutschland Partei genommen hatte, etwa mit seiner scharfen Kritik der Flächenbombardements, und der nun als Teilnehmer der Tagung in Stuttgart verhindern wollte, daß man jenen Fehler wiederholte, der nach dem Ersten Weltkrieg mit der Behauptung einer deutschen Alleinschuld gemacht worden war. 

Widerspruch des Bischofs Bell ist heute vergessen 

Deshalb gab Bell eine Art Sondervotum ab, dessen Tenor ein ganz anderer war als der der Schulderklärung: „Die Gerechtigkeit und der Glaube an Gott und die Hoffnung auf die Zukunft erfordern, daß wir Nicht-Deutschen in dieser gemeinsamen Katastrophe ebenfalls unsere eigene Schuld bekennen. Um nur das Nächstliegende zu erwähnen: Wir hier in England haben in geradezu verbrecherisch leichtfertiger Weise unsere Verpflichtung verkannt, Friede und Ordnung zu verteidigen; und wenn die Deutschen sich beim Aufstieg Hitlers verhängnisvoll passiv verhalten haben, so war auch unsere und anderer Völker Passivität kaum weniger augenfällig und kaum weniger tadelnswert. Auch wir und unsere Kirchen haben zugeschaut, wie das nationalsozialistische System allmählich Überhand gewann über das Leben in Deutschland. (…) Alle haben gesündigt und alle sind zur Buße aufgerufen.“

Angesichts der Machtverteilung, die sich in der EKD zwar noch nicht durchgesetzt hatte, aber abzeichnete, der Rückendeckung, die die Fraktion Niemöller und Barth von außen erhielt und des säkularen Linkskurses, der in der Folgezeit die evangelischen Kirchen erfaßte, kann nicht überraschen, daß die Erinnerung an Bells Stellungnahme heute genauso vergessen ist wie die Menge der wohlbegründeten Einwände gegen die Stuttgarter Schulderklärung. In jedem Fall war sie ein erster und entscheidender Schritt auf dem Weg hin zur spezifisch deutschen Form von „Vergangenheitsbewältigung“ und hilft, deren fatale theologische Grundierung zu verstehen.

Foto: Mitglieder des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, die im Oktober 1945 das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ verfaßten; Martin Niemöller, Wilhelm Niesel, der Ratsvorsitzende Theophil Wurm, Hans Meiser, Heinrich Held, Hanns Lilje, Otto Dibelius (v.l.n.r.); Veröffentlichung der Schulderklärung im „Verordnungs- und Nachrichtenblatt“ der EKD im Januar 1946 (r.): Als Bestätigung der alliierten „Kollektivschuldthese“ gedeutet