© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/15 / 16. Oktober 2015

Herold des Reiches und Poet der Backfische
Der erfolgreichste Lyriker seiner Zeit: Zum 200. Geburtstag von Emanuel Geibel
Wolfgang Müller

In seinem Vortrag „Lübeck als geistige Lebensform“, gehalten 1926, zum 700jährigen Jubiläum der Reichsfreiheit seiner Vaterstadt, erinnerte sich Thomas Mann: „Ich habe Emanuel von Geibel als Kind noch gesehen, in Travemünde, mit seinem weißen Knebelbart und seinem Plaid über der Schulter, und bin von ihm um meiner Eltern willen sogar freundlich angeredet worden. Als er gestorben war, erzählte man sich, eine alte Frau auf der Straße habe gefragt: ‘Wer kriegt nu de Stell? Wer ward nu Dichter?’“

„De Stell“ des im April 1884 nach langem Leiden verstorbenen Lübecker Ehrenbürgers, so fuhr Thomas Mann fort, habe schon deshalb niemand erhalten, weil der alte Geibel, der „Laureatus mit dem klassisch-romantischen Saitenspiel“ und der Meister „alabasterner Form“, eher als Dichterdarsteller denn als Dichter galt. Wenn auch, ein beispielloser Erfolg, seine biedermeierlich-elegischen, das Lebensgefühl mehrerer bürgerlicher Generationen ausdrückenden „Gedichte“ von 1840 bis zu seinem Tod in einhundert Auflagen herauskamen.  

Das Odium, ein preußischer „Staatspoet“ zu sein

Die letzte originäre Leistung gelang dem auf Liebe und Vergänglichkeit fixierten „Poeten der Backfische“ (Heinrich von Treitschke), dessen Verse angeblich „keinen einzigen Gemeinplatz unterschlugen“ (Josef Nadler), mit dem nur noch fünf Auflagen erreichenden Gedichtband „Heroldsrufe“, veröffentlicht Weihnachten 1870. Darin, neben älteren patriotischen Gesängen, versammelte Geibel, der sich ungeachtet aller Gebrechen täglich voll ängstlicher Spannung ins Lübecker Telegraphenbüro schleppte, um dort als erster die sich jagenden Nachrichten von Wörth, Spichern und Sedan mit „lautem Entzücken“ zu quittieren, seine poetischen Reaktionen auf diese Siegesmeldungen von den Schlachtfeldern des Deutsch-Französischen Krieges, zu dessen Auftakt er sein sofort populär gewordenes, von einem Dutzend Komponisten vertontes „Kriegslied“ beigesteuert hatte: „Empor mein Volk! Das Schwert zur Hand!/ Und brich hervor in Haufen!/ Vom heil’gen Zorn ums Vaterland/ Mit Feuer laß dich taufen!/ Der Erbfeind beut dir Schmach und Spott./ Das Maß ist voll, zur Schlacht mit Gott!/ Vorwärts!“

Was sich im Rückblick wie plumpe Konjunkturreimerei ausnimmt, dokumentiert tatsächlich die Erfüllung eines Lebenstraumes. Denn ausgerechnet der Bürger einer hanseatischen Stadtrepublik, im gerade erst von napoleonischen Besatzungstruppen befreiten Lübeck am 17. Oktober 1815 geboren, sehnte sich schon als Primaner nach Kaiser und Reichseinheit. Eine politische Präferenz, die ihn nahezu automatisch zum nationalkonservativen Parteigänger Preußens und daher vor 1848 zum Außenseiter machte im Umkreis tonangebender liberal-demokratischer Vormärzliteraten vom Schlage des zu revolutionärer Tat drängenden schwäbischen Feuerkopfs Georg Herwegh. 

Zusätzlich ins schiefe Licht geriet der mittellose Geibel, als ihn 1842 eine Rente König Friedrich Wilhelms IV. aller Existenzsorgen enthob. Was er fortan im politischen Tageskampf publizierte, schien daher behaftet mit dem Odium, aus der Feder eines preußischen „Staatspoeten“ zu stammen. Einerlei, ob er 1846 energisch für die von Preußen zögerlich unterstützte Sezession der Schleswig-Holsteiner eintrat („Von unsern Lippen soll allein/ Der Tod dies Wort vertreiben:/Wir wollen keine Dänen sein,/ Wir wollen Deutsche bleiben“), oder ob er als Monarchist die Märzrevolution von 1848 als Aufstand des „Pöbels“ verdammte.

Vollends als Exponent restaurativer Kulturpolitik engagierte sich Geibel, als er 1852 das Angebot des kunstsinnigen bayerischen Königs Maximilian II. annahm, an der Münchener Universität über Literatur und Ästhetik zu lesen. Vor allem aber sollte er in „Isar-Athen“ einem illustren Dichterzirkel vorstehen, der Bayerns Anspruch, an der Spitze der Mittel- und Kleinstaaten neben Preußen und Österreich zu stehen, auch kulturell untermauern konnte. Doch weder künstlerisch noch politisch ging die Rechnung auf. Künstlerisch nicht, weil Geibels von Thomas Mann nachmals als „alabastern“ ironisierte, spätklassizistische Poesien und die seiner gleichfalls epigonalen Mitstreiter den Bezug zur heraufziehenden industriellen, bürgerlich-kapitalistischen Wirklichkeit verloren. Politisch nicht, weil Preußen unter Bismarcks Ägide exklusiv zur kleindeutschen Führungsmacht aufrückte und Bayerns Aspirationen zerstoben. 

Da Geibel sich aber seine preußischen Sympathien stets bewahrt hatte, war es nur konsequent, daß Maximilians Nachfolger, der „Märchenkönig“ Ludwig II., die Zahlungen an ihn just einstellte, als der „Pensionär der bayerischen Kabinettskasse“ ostentativ den Wittelsbacher zum Vasallen Wilhelms I. erniedrigte, da er dem Hohenzollernherrscher 1868 zujubelte, der preußische Adler möge bald „übers Reich ununterbrochen/Vom Fels zum Meer“ kreisen.

Geibels am meisten zitierter Vers hingegen, der im Zeichen des „moralischen Imperialismus“ (Viktor Orbán) der bundesdeutschen „Willkommenskultur“ ungeahnte Aktualität gewinnt, hat nichts mit dem 1871 wiedererlangten Großmachtstatus des Deutschen Reiches oder gar der „Weltpolitik“ Wilhelms II. zu tun: „Und es mag am deutschen Wesen/Einmal noch die Welt genesen.“ Das Gedicht „Deutschlands Beruf“, mit diesen Schlußzeilen, entstand bereits 1861. Es legitimiert keinen Imperialismus, nicht einmal einen „moralischen“, der andere Nationen zu ihrem multikulturellen „Glück“ zwingen will. Das Reich, „Europas Herz“, sei allein deshalb wieder zu errichten, weil nur eine starke Mitte die „Selbstsucht“ nationaler Egoismen zügeln und „Macht und Freiheit, Recht und Sitte“ den alten Kontinent befrieden könne.