© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/15 / 16. Oktober 2015

Nicht nur der Rasse-Dandy
Annäherung an einen Verfemten: Udo Bermbach über den antisemitisch konnotierten Literaten Houston Stewart Chamberlain
Robert Rielinger

Der Herausgeber des Wagnerspectrum und emeritierte Politologe Udo Bermbach ist bereits durch eigenständig-kritische Urteile zur gegenwärtigen Wagner-Kultur aufgefallen. Diese Unbotmäßigkeit setzt sich fort in einer Artikelfolge der Jahre 2011 bis 2015 zu Houston Stewart Chamberlains Wagnerbild, Theologie, Bibliothek und schließlich Goethebild im April dieses Jahres in der FAZ. Die letztgenannte Veröffentlichung darf als Abbreviatur des vorliegenden Werkes angesehen werden. Unter der Überschrift „Ein Goethe für den Giftschrank?“ entfaltet Bermbach inhaltlich und methodisch bereits das Spektrum der nun erschienenen Arbeit.

Benennt er die Verfemung Chamberlains als Ausgangspunkt doch so: „Für die heutige Debatte über Goethe spielt Chamberlain keine Rolle mehr. Er ist meist nur noch als Schwiegersohn Richard Wagners und Sympathisant Hitlers in Erinnerung, als völkischer Ideologe und Vordenker eines deutschtümelnden Bayreuths, als Rassist und Autor der antisemitischen ‘Grundlagen des 19. Jahrhunderts’, als Verfasser von Kriegsschriften ab 1914 gegen England und Frankreich. Aber solche nicht ganz falschen und doch verkürzten Urteile übersehen die Breite einer gelehrten Existenz.“

Am Beispiel von Chamberlains „Goethe“ führt Bermbach diese Verfemung exemplarisch ad absurdum. Er zeigt die Singularität des Chamberlainschen Ansatzes einer persönlichen Goethe-Monographie als Stiftung einer eigenen Textsorte, die von Simmel über Gundolf bis Friedenthal und Safranski Goethes Leben als Kunstwerk begreift, an dem sich Biograph und Leser orientieren können. Mehr noch: Angesichts der häufig angekreideten acht Seiten antisemitischer Goethe-Zitate des 733seitigen Textes konterkariert Bermbach den nach Chamberlains theologischem Freund Harnack „entstellenden Fleck“ mit der höchsten Wertschätzung durch Walter Benjamin. Das Porträt des mit Hut und Handschuhen lesenden Dandys Chamberlain – auch Grundlage der Titelgraphik des Buchumschlags – kommentiert er mittels der Chamberlain-Charakteristik Adornos: „Ursprünglich ein differenzierter, zarter, gegen das Abgefeimte kommerzialisierter Kultur überaus empfindlicher Mensch.“

Bermbachs Werkbiographie geht es um die Korrektur der angeführten „nicht ganz falschen und doch verkürzten Urteile“ in weiterer Würdigung der „Breite einer gelehrten Existenz“ und ihrer umfänglichen literarischen Produktion. Das sind schwerpunktmäßig die kurz vor der Jahrhundertwende entstandenen Bestseller zu Richard Wagner und den „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ und die danach verfaßten Kant- und Goethe-Monographien. Auch mit den „Grundlagen“ begründete Chamberlain eine neue Textsorte: „Dem ‘Wahngebilde einer fortschreitenden und rückschreitenden Menschheit’ setzt Chamberlain seine These entgegen, jede Kultur sei einmalig und habe ihren individuellen Charakter – eine These, die Oswald Spengler später zu einer weitreichenden Theorie der Geschichte ausbauen wird.“ (Bermbach) Und nicht nur Spengler: Egon Friedells Kulturgeschichte bezieht sich auf den „geistvollen“ Chamberlain. 

Bermbach zitiert als Ordnungsprinzip der „Grundlagen“ das Dreierschema von Wissen (Entdeckung, Wissenschaft), Zivilisation (Industrie, Wirtschaft, Politik und Kirche) und Kultur (Weltanschauung samt Religion und Sittenlehre, Kunst). Chamberlains „Generalthese“ behauptet „die Rasse als entscheidende Kraft der historischen Gestaltung und die Germanen als die eigentlichen Begründer und Träger der europäischen Kultur“.

„Kultur“ und „Rasse“ sind bis heute Anlaß erbitterter ideologischer Fehden. Die organische Kulturlehre Chamberlains, Spenglers und Friedells wurde implizites Angriffsziel der soziologischen Theorie des „Zivilisationsprozesses“ (Norbert Elias) samt Stigmatisierung der deutschen Geschichte als „Sonderweg“ und zugehörigem Alltagsgerede bis in die Gegenwart („Zivilgesellschaft“). Der Begriff „Rasse“ unterliegt seit den Thesen des deutsch-amerikanischen Ethnologen Franz Boas (1858–1942) zunehmend einem anthropologischen Denkverbot, wodurch sich Bermbach aber nicht verdrießen läßt. Vielmehr diskutiert er den changierend biologisch-kulturellen Charakter von Chamberlains Rassebegriff, Chamberlains kritische Selbstrelativierung („zuviel Gewicht gegenüber der Autonomie der Persönlichkeit“) und knüpft mit umfänglichem Apparat an aktuelle Biologie und Genetik an.   

Bermbach wagt sich auch an die Gretchenfrage nach Chamberlains Antisemitismus. Dieser sei weder „eliminatorisch“ (Goldhagen) noch „erlösend“ (Friedländer). Chamberlains ordnungspolitische Antwort an einen rumänischen Soziologen nach dem Zusammenleben von Rumänen und Juden aus dem Jahre 1901 ähnelt demnach der heutigen Regelung Israels von Grundbesitz und Staatsbürgerschaft für Nichtjuden.

Jenseits dieser Grundlinien bietet das Buch zahlreiche überraschende Perspektiven auf Chamberlains Werk und lädt zu dessen Lektüre ein.

Udo Bermbach: Houston Stewart Chamberlain. Wagners Schwiegersohn – Hitlers Vordenker. J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2015, gebunden, 636 Seiten, Abbildungen, 39,95 Euro