© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/15 / 16. Oktober 2015

Katastrophe nach der Urkatastrophe
Versailler Vertrag: Die Britin Margaret MacMillan bereitet die Friedensverhandlungen von 1919 und ihre Protagonisten auf, unterhaltsam und „wunderbar revisionistisch“
Günther Deschner

Der hundertste Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs hat im vergangenen Jahr das Interesse an diesem ersten globalen Konflikt neu belebt. Die Debatte darüber, wie er begann und was ihn auslöste, geht unvermindert weiter: Was Christopher Clarks Buch für die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs oder Herfried Münklers „Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918“ geleistet haben, das kann das mehrfach preisgekrönte Buch „Die Friedensmacher“ der kanadischen Historikerin Margaret MacMillan, einer Urenkelin des britischen Premierministers David Lloyd George, für die Nachgeschichte bieten: eine erste große Gesamtdarstellung des Versailler Friedens – für viele ein „Vertrag“, für manch andere ein „Diktat“ – und seiner Auswirkungen für die Nachgeschichte. Die Originalausgabe des umfangreichen und ausführlich dokumentierten Werks erschien bereits 2001 bei John Murray Publishers, London, und gilt in der angelsächsischen Welt inzwischen als Standardwerk: präzise dokumentiert, brillant erzählt, eine fesselnde Lektüre.

Wie der Kriegsausbruch 1914 war auch das Kriegsende 1918 ein Schlüsselereignis des 20. Jahrhunderts. Der Zusammenbruch der vier größten Reiche Europas (des Deutschen Kaiserreichs, der österreichisch-ungarischen Monarchie, des russischen Zarenreichs und des türkischen Osmanenreichs) führte zur folgenreichen Neuordnung des Kontinents im Versailler Friedensvertrag von 1919 und seinen Folgeverträgen. 

Margaret MacMillan schildert anschaulich, faktengesättigt, prall und unterhaltsam das Geschehen rund um die Vertragsverhandlungen: die Differenzen der Siegermächte, die Rachegelüste der Franzosen, die Annexionswünsche der Engländer, die mißachteten Erwartungen der Kolonialvölker, die demütigende Behandlung der Deutschen, das Geschacher um den Nachlaß der Verlierer, schließlich den Diktatfrieden, der Deutschland die Alleinschuld am Kriegsausbruch aufbürdete. Die Autorin würdigt das Bemühen der Sieger um eine dauerhafte und ihnen genehme Friedensordnung, zeigt aber auch deutlich, wie sehr die schließlich in den Zweiten Weltkrieg mündenden Konflikte bereits in den Pariser Vorortverträgen angelegt waren. 

Mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages akzeptierte Deutschland gezwungenermaßen die „Schuld“ für den Krieg, der neun Millionen Menschen das Leben kostete. Artikel 231 des Friedensvertrages, der sogenannte „Kriegsschuldartikel“, bezeichnete das Deutsche Reich und die österreich-ungarische Monarchie als für alle „Verluste und Schäden“ verantwortlich, welche die Alliierten während des Krieges erlitten hatten und war die Basis für die „Entschädigungs“-Zahlungen, die erst im Oktober 2010 zu Ende gingen. 

Das Ergebnis war jener „Vertrag“, den die Deutschen im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles unterschrieben und den die Weimarer Nationalversammlung am 9. Juli 1919 ratifizierte. Die Deutschen fügten sich äußerst widerwillig. Die Bedingungen seien „unerträglich“, klagte Reichsministerpräsident Philipp Scheidemann von der SPD, der mit seinem Kabinett zurückgetreten war, weil er dem Vertrag nicht hatte zustimmen wollen: „Welche Hand müßte nicht verdorren, die sich und uns in diese Fessel legt?“ Ein Siebtel des Territoriums von 1914 ging verloren mit insgesamt einem Zehntel der Bevölkerung. Ostpreußen wurde durch den Polnischen Korridor abgetrennt, das Rheinland von den Siegermächten besetzt, die Kolonien wurden unter ihnen aufgeteilt. Dazu kamen die wirtschaftlichen Verluste: ein Drittel der Kohle-, drei Viertel der Erzvorkommen, die Handelsflotte, zudem dreißig Jahre lang Reparationsleistungen in nicht definierter Höhe. Dieser „Vertrag“ wurde durch die Deutschen verachtet und führte zum Gefühl der Opferrolle, da sie sich als Sündenbock für die Verfehlungen der anderen europäischen Staaten vor dem Weltkrieg sahen.

Kritik zog der Versailler Vertrag, der erste der „Pariser Vorortverträge“, schon in der Entwurfsphase auf sich: Die Friedensmacher wurden sich nämlich nur schwerlich einig, wie man bei Margaret MacMillan lesen kann. Ausführlich macht sie sich die scharfen Polemiken zu eigen, mit denen der junge britische Ökonom John Maynard Keynes die führenden Staatsmänner porträtierte, die in Paris darüber befanden, wie sie das Deutsche Reich am besten demütigen, amputieren und demontieren konnten. Keynes’ ebenso unterhaltsames wie zutreffendes Bild, das er von den Verhandlungen in seinem späteren Bestseller „Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages“ zeichnete, bestimmt noch heute die Sicht auf die Beteiligten: Frankreichs 77jähriger Ministerpräsident Georges Clemenceau begegnet dem Leser als arroganter Machtpolitiker, der die Verhandlungen „mit halbgeschlossenen Augen verfolgt, die Hände auf dem Tisch in grauen Zwirnhandschuhen“, ein beinharter Vertreter Frankreichs, dessen lebhafteste Eindrücke allerdings „der Vergangenheit und nicht der Zukunft angehören“. US-Präsident Woodrow Wilson erscheint demgegenüber als „blinder und tauber Don Quijote“, vielleicht von „edlen Absichten beseelt“, aber den Winkelzügen des Franzosen hoffnungslos unterlegen, denn der Präsident, immerhin Politikprofessor in Princeton, war demnach „im Kopf zu langsam“.

So ist es auch kein Wunder, daß der Versailler Vertrag nicht nur für die weitere deutsche Geschichte eine schicksalhafte Rolle gespielt hat, sondern für weite Teile der Welt, mit Folgen zum Teil bis heute. Man kann sich dem Urteil des Sunday Telegraph über MacMillans Buch anschließen: Es ist in der Tat „wunderbar revisionistisch und auf verwegene Weise politisch unkorrekt“. 

Margaret MacMillan: Die Friedensmacher. Wie der Versailler Vertrag die Welt veränderte. Propyläen Verlag, Berlin 2015, gebunden, 736 Seiten, Abbildungen, 34 Euro