© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/15 / 16. Oktober 2015

Kurieren an den Symptomen
Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz beklagt die wachsende Ungleichheit. Daß die Geldpolitik in den USA und Euroland daran schuld ist, erkennt er nicht
Michael Paulwitz

Für die politische Linke gehört Joseph Stiglitz zu den Stars in der Ökonomenzunft: In den Neunzigern Wirtschaftsberater des demokratischen Präsidenten Bill Clinton und Chefvolkswirt der Weltbank, 2001 Träger des Wirtschaftsnobelpreises, Bestsellerautor und engagierter Kolumnist. Der stramm sozialistische neue britische Labour-Chef Jeremy Corbyn ernannte zuletzt Stiglitz, in der Euro-Krise einer der schärfsten Kritiker des „deutschen“ Kurses der Haushaltskonsolidierung, zusammen mit dem in Europa vor kurzem zum Star aufgestiegenen Thomas Piketty zu seinen Wirtschaftsberatern. Stiglitz hat also Einfluß; schon deshalb lohnt die Lektüre seiner analytischen und kämpferischen Kolumnen und Debattenbeiträge, die in diesem Band auf deutsch vorgelegt werden.

„Arm und Reich“ setzt Stiglitz’ großes Thema aus dem vor drei Jahren erschienenen Bestseller „Der Preis der Ungleichheit“ fort: die wachsende Ungleichheit in der Verteilung von Reichtum und Wohlstand in den USA und weltweit und deren negative ökonomische und soziale Auswirkungen. Anhaltendes Wirtschaftswachstum, von dem letztlich auch der Wohlstand der Reichsten abhängt, ist unmöglich, wenn die Einkommen der großen Mehrheit stagnieren. Die sind es nämlich vor allem, die einen großen Teil ihres Einkommens auch wieder in den Wirtschaftskreislauf einspeisen.

Damit ist die keynesianische Note in Stiglitz’ Denken angeschlagen, das sich um das Verhältnis des „einen Prozents“ der „Superreichen“ zum Rest dreht. Wo, wie in den USA, Politik durch und für das „eine Prozent“ betrieben werde, komme ein „Schein“- oder „Ersatzkapitalismus“ heraus, der die Ungleichheit noch weiter verstärke, Demokratie und Wohlstand unterminiere. Das sei kein unabwendbares Schicksal, sondern die Folge politischer Entscheidungen und müsse auch politisch korrigiert werden.

Reinen Kapitalismus ohne Staatseingriff gibt es nur in der Theorie. Daß Marktwirtschaft nur innerhalb eines verläßlichen Regelwerks funktioniert, würde wohl auch jeder Ordoliberale unterschreiben. Für Stiglitz allerdings sind, ebenso wie für den von ihm wohlwollend begrüßten Piketty, weitreichende staatliche Maßnahmen zur gerechteren Wohlstandsverteilung ein Muß. Als Vorbild benennt er nicht zuletzt die „gelenkten Marktwirtschaften Ostasiens“, die freilich nicht nur Erfolgsgeschichten wie Singapur schreiben, sondern wie China ihrerseits ebenfalls mit spezifischen, selbstgeschaffenen Krisen zu kämpfen haben.

Zu Recht weist Stiglitz im Vergleich der europäischen Währungsunion mit den USA darauf hin, daß jenseits des Atlantiks der Großteil der Staatsausgaben für Sozialleistungen, Kapitalinvestitionen und Einlagensicherung Sache des Bundes sei, während die Euro-Währung ohne politische und Bankenunion zum Scheitern verurteilt sei. Daraus kann man, wie die europäische politische Klasse, die Folgerung ziehen, diese auch noch schaffen zu müssen, um den Euro zu retten, oder aber das Scheitern eingestehen.

Sparpolitik, Haushaltskonsolidierung und Strukturreformen ohne massive Staatsausgaben sind für Stiglitz dagegen Teufelszeug. Sein Eintreten für Staatsausgaben, Reichenbesteuerung und Erbschaftssteuern macht Stiglitz zum Säulenheiligen sozialdemokratischer und sozialistischer Umverteilungspolitiker auch in Europa. Damit rückt er zwar den Symptomen der Ungleichheit zu Leibe, aber nicht ihren Ursachen. Denn die Akkumulierung der Reichtümer einer immer kleineren Schicht hängt nicht zuletzt mit einer Geldpolitik zusammen, die Zentralbanken als Instrumente der Wirtschafts- und Fiskalpolitik sieht. 

Um diese zu betreiben, generieren Papiergeldsysteme Geld aus dem Nichts, das die Märkte flutet und jene begünstigt, die an der Quelle sitzen, während das weiche Geld die Mittelschicht verarmen läßt und in der Unterschicht kaum ankommt. Stiglitz’ Kampf gegen die Ungleichheit ist somit Teil jenes geldsozialistischen Perpetuum mobile, das die Mißstände, die es laufend erfolglos bekämpft, letztlich selbst wesentlich verursacht.

Joseph Stiglitz: Reich und Arm. Die wachsende Ungleichheit in unserer Gesellschaft. Siedler Verlag, München 2015, gebunden, 512 Seiten, 24,99 Euro