© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/15 / 23. Oktober 2015

Es brummt
Streit um Windenergie: Nicht zuletzt dank der Ökostromförderung boomt das Geschäft / Doch wo Windräder aufgestellt werden, nehmen auch die Beschwerden der Anwohner zu
Hinrich Rohbohm

Eigentlich sei er mal ein Befürworter von Windernergie gewesen, erzählt Sven Reschke-Luiken. Der Familienvater aus Arle, einem 1.000 Einwohner zählenden Ortsteil der ostfriesischen Gemeinde Großheide im Landkreis Aurich, spricht sich normalerweise immer für erneuerbare Energien aus. Kernkraft? Will er nicht, den Ausstieg aus dieser Energieform hält er für richtig. Doch seine Ansichten über die Windkraft haben sich um 180 Grad gedreht. Was vor allem darauf zurückzuführen ist, daß er mit seiner Familie inzwischen selbst nur 840 Meter von einem Windpark entfernt lebt.

Kaum wissenschaftliche  Untersuchungen zu Risiken 

„Die sind hier völlig über das Ziel hinausgeschossen“, sagt er. Mit „die“ meint er vor allem den Landkreis Aurich, der sich aus der Windkraft eine lukrative Einnahmequelle zur Sanierung der maroden Kreisfinanzen verspreche und selbst als Mitbetreiber eines Parks fungiert. Für Reschke-Luiken eine fragwürdige Situation. Schließlich handele der Landkreis auch gleichzeitig als Genehmigungsbehörde. „Die bauen die Anlagen und können sie sich dann auch selbst noch genehmigen. Und dann ist der Landkreis ja auch noch Ansprechpartner für die Beschwerden von Anwohnern“, verdeutlicht er das Problem, das so mancher Bürger in seinem Ort mit einer solchen Dreifachfunktion der Behörde habe.

Landkreis-Mitarbeiter seien einst zu den Bauern gefahren, um deren Einverständnis für den Bau der Anlagen zu bekommen. „Die haben jedem gesagt, daß die Mühlen bei ihnen auf dem Grundstück gebaut würden.“ Weil  dies für Landwirte eine durchaus lukrative Nebeneinnahme bedeutete, hätten die meisten dem Vorhaben zugestimmt. „Tatsächlich stand damals noch gar nicht fest, auf wessen Land die Anlagen künftig stehen würden“, behauptet Reschke-Luiken, der zudem bemängelt, daß der Landkreis seit 14 Jahren weder ein regionales Raumordnungsprogramm noch einen Landschaftsrahmenplan verabschiedet habe. Seine Vermutung: „Da hätte man dann naturschutzwürdige Gebiete ausweisen müssen, die in den Flächennutzungsplänen der Städte und Gemeinden Berücksichtigung gefunden hätten.“

Beim Landkreis Aurich bestätigt man, als Mitbetreiber einer Windanlage und gleichzeitig als Genehmigungsbehörde zu fungieren. „Wir haben das mit dem niedersächsischen Innenministerium abgeklärt. Die haben uns mitgeteilt, daß sie da keine Bedenken haben“, erklärt der stellvertretende Pressesprecher Holger Kleen der JUNGEN FREIHEIT. Für Anwohnerbeschwerden hingegen sei nicht der Landkreis, sondern das Innenministerium in Hannover zuständig, betont Kleen.

Das alles hätte für Sven Reschke-Luiken nur einen schalen Beigeschmack, wären da nicht auch gesundheitliche Belastungen, denen sich seine Familie und weitere Anwohner ausgesetzt sehen, seit die Windanlagen in Betrieb sind. „Wenn wir im Sommer an warmen Tagen bei geöffnetem Fenster schlafen wollen, ist das bei ungünstigen Windverhältnissen nicht mehr möglich.“ Die Geräusche der Mühlen hätten seiner Familie den Schlaf geraubt. „Das war so ein fieses Brummen, Zischen und Fauchen.“ Die Zisch- und Fauchgeräusche seien bei geschlossenem Fenster nicht mehr zu hören. „Aber das Brummen bleibt, und es macht uns zu schaffen.“ An manchen Tagen sei es so schlimm, daß seine Kinder anfangen zu weinen. „Papa, mach, daß das aufhört“, habe ihn seine Tochter unter Tränen angefleht.

Sven Reschke-Luiken kam dem Wunsch seiner Tochter nach, gründete mit weiteren Anwohnern eine Bürgerinitiative. Schnell stellte sich heraus: Seine Familie sollte nicht die einzige sein, die mit den Brummgeräuschen der Mühlen Probleme hat. Einige klagen über Kopfschmerzen, andere über ein merkwürdiges Druckgefühl auf der Brust. „Eine Ärztin hier vor Ort war zum Beispiel so genervt davon, daß sie sich in einem Hotel einquartierte, um wieder beschwerdefrei schlafen zu können. Die Frau sei inzwischen weggezogen.“ 

Über Auswirkungen der Windmühlengeräusche auf die Gesundheit von Mensch und Tier kann der Landkreis Aurich „nichts Genaueres“ sagen. Verwunderlich ist das nicht. In Deutschland existieren bisher kaum wissenschaftliche Untersuchungen dazu, und Diskussionen darüber werden hierzulande längst nicht so intensiv geführt wie derzeit etwa in Dänemark. Dort hatte der Fall eines Nerzzüchters aus dem jütländischen Vildbjerg für Furore gesorgt, dessen weibliche Tiere bei Westwind ihre Jungen totgebissen hatten. Auch Mißbildungen der Tiere und Fehlgeburten seien die Folge gewesen.

Verantwortlich dafür sollen die 300 Meter von den Ställen entfernt befindlichen Windkraftanlagen sein, deren Turbinen Infraschallschwingungen erzeugten und die Tiere verrückt spielen ließen. Auch der Nerzzüchter klagt über Kopfschmerzen, ein Engegefühl in der Brust und Atembeschwerden. Einem Pflanzenzüchter auf der 250 Kilometer entfernten Insel Seeland erging es ähnlich. Nachdem neben seinem Betrieb Windanlagen in Betrieb gingen, leidet er unter Schlaflosigkeit und einem Vibrieren im Brustkorb. Seine Mitarbeiterinnen litten unter Kopfschmerzen und Menstruationsproblemen, einige so sehr, daß sie kündigten. 

Entsprechende Untersuchungen über dieses Phänomen laufen. Doch schon jetzt haben die Vorkommnisse im nördlichen Nachbarland zu großer Verunsicherung geführt. Und dazu, daß Windkraftanlagen auf offener See, sogenannte Offshore-Windparks attraktiver werden. Ihr Vorteil: Keine Konflikte mit Anwohnern, zudem aufgrund günstigerer Windverhältnisse eine höhere Leistungsfähigkeit.

Gerade erst hat der dänische Stromkonzern Dong vor der ostfriesischen Insel Borkum 78 Windkraftanlagen mit einer Leistung von 312 Megawatt in Betrieb genommen. 320.000 Haushalte sollen durch den neuen Offshore-Park versorgt werden. Im Sommer dieses Jahres wurde zudem der 32 Kilometer vor Sylt befindliche Windpark Butendiek mit 80 Anlagen in Betrieb genommen. 370.000 Haushalte soll er künftig mit Strom versorgen. Befürchtete Proteste von Touristen und Insulanern blieben weitgehend aus.

„Die stören doch nicht“, sagt Klaus Brümmer. Der 54 Jahre alte Westfale kommt immer mal wieder nach Sylt, um mit seiner Familie einige Tage auszuspannen, wie er sagt. Zufrieden blickt er auf das Meer in die untergehende Sonne, die in den Abendstunden die Windanlagen anschimmert und so erst am Horizont sichtbar erscheinen läßt. Viele Touristen stehen mit ihm an der Strandpromenade, wollen sehen, wie die Abendsonne im Meer versinkt. Und wie er hat kaum einer ein Problem mit den Windanlagen. Die sind doch weit genug weg, um störend zu wirken, sagen die meisten. 

Auch Jutta Vielberg von der Sylt Marketing GmbH sagt: „Negative Auswirkungen auf den Tourismus in Sylt können wir nicht feststellen.“ Die von Naturschützern befürchteten negativen Auswirkungen für die vor Sylt angesiedelten Schweinswale seien ausgeblieben.

„Oftmals ist es ja einfach nur die Angst vor dem Unbekannten, die Bürger gegen ein Vorhaben aktiv werden läßt“, sagt Christian Schnibbe, Kommunikationschef des Bremer Windparkbetreibers WPD. Das Unternehmen hatte die Tiere während der geräuschintensiven Rammarbeiten vertrieben, um sie vor Lärmbeeinträchtigungen zu schützen. „Jetzt sind sie wieder da, und es geht ihnen gut.“

Das Schlafzimmer wird nicht mehr genutzt

Doch auch die Offshore-Windparks haben ihre Schattenseiten. Die Kosten für die Errichtung und den Anschluß an das Stromnetz sind deutlich höher als erwartet, vor allem höher als für Anlagen an Land. Erst auf längere Sicht rechnen sich die Anlagen auf dem Meer. Weil der Staat zudem für Offshore-Energie eine deutlich höhere Stromeinspeisevergütung festgelegt hat, gelten Offshore-Windparks derzeit oft als diejenigen, die den Strompreis für den Verbraucher in die Höhe schnellen lassen. Die EEG-Umlage wird 2016 erneut um drei Prozent von derzeit 6,17 Cent pro Kilowattstunde auf 6,35 Cent steigen. Dabei hatte der Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel (SPD), noch vor einem Jahr verkündet, daß der Anstieg der Stromkosten gestoppt sei, nachdem die Umlage 2015 erstmals nicht gestiegen war.

Daß durch den Ausbau der Windkraft die EEG-Umlage noch weiter steigen wird, davon geht Sebastian Sahm von der Stiftung Offshore-Windkraft aus. „Ich rechne mit einem moderaten Anstieg noch bis 2023“, sagt er der JF. Erst dann wären die Offshore-Windparks so weit, daß sie sich rentieren würden.

Sven Reschke-Luiken hingegen überzeugt das alles nicht. Längst ist er zu einem ausgemachten Windkraftgegner geworden, der sich bereits mit anderen Bürgerinitiativen vernetzt hat. Es sei verrückt, daß der Verbraucher mehr für den Strom zahlen müsse, obwohl an der Börse die Preise sinken. „Das hat alles keinen Sinn. Leider hat man sich da schon so verrannt, man kommt von der Windenergie gar nicht mehr weg.“ Daß er die Brummgeräusche wohl noch länger ertragen muß, dürfte ihm klar sein. Das Schlafzimmer benutzen seine Frau und er inzwischen nicht mehr. Sie schlafen jetzt im Gästezimmer.





Windenergie

Unter den erneuerbaren Energien hat die Windkraft mit derzeit 9,1 Prozent beziehungsweise über 50 Milliarden Kilowattstunden den größten Anteil (siehe untere Grafik). Laut einer Erhebung im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie arbeiteten 137.800 Beschäftigte in der Branche (2013); 119.000 davon für Windkraftanlagen an Land, 18.800 für die Offshore-Anlagen. Etwa 19.500 Arbeitsplätze hängen mit der Wartung und dem Betrieb der Windräder zusammen. 

Die knapp 25.000 Anlagen in Deutschland machen 45 Prozent der in Europa installierten Windenergie aus. Die meisten dieser Windkraftanlagen stehen in Niedersachsen (siehe Karte).