© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/15 / 23. Oktober 2015

Pankraz,
A. Merkel und die slawische Grenze

Mit ihrer „grenzenlosen“ Asylpolitik, ihrer Politik der jederzeit und überall ignorierbaren Grenzen, hat sich die deutsche Bundeskanzlerin Merkel nicht nur die Verachtung vieler Politologen eingehandelt, sondern auch das Kopfschütteln der Etymologen, jener Leute also, die sich um die einem Wort innewohnende Wahrheit und seine Ursprünge kümmern. Denn nicht nur Staaten sind ohne Grenzen gar nicht denkbar, geschweige denn regierbar, sondern die ganze Welt in all ihren Fugen. „Alles hat seine Grenzen“, sagt der Volksmund, und wer das leugnet, gehört mit Sicherheit nicht an die Spitze eines Staates.

Einige Etymologen sagen, Merkels Ignoranz sei „typisch ostdeutsch“ und reiche weit in die Vergangenheit zurück, bis in die Zeit der Reichsgründung und der ottonischen, nach Osten gerichteten Siedlungspolitik im elften Jahrhundert. Im Altdeutschen gab es damals das Wort „Grenze“ noch gar nicht, man hatte nur das fränkische Wort „Marken“, wenn man die Räume meinte, in denen sich Völker begegneten. Es ging dann, aus ottonischer Sicht, nicht darum, daß ein Volk das andere vertrieb, sondern man versuchte, im Zeichen des Kreuzes, des Christentums, friedlich miteinander auszukommen,

„Grenze“ („granica“) war damals das altslawische Gegenwort zu „Marken“, es bedeutete nicht Zusammenleben des Verschiedenen im Zeichen von irgendwas, sondern ausdrücklich und durchaus mit aggressiver Spitze Trennung, Bewahrung des Eigenen in Religion, Sprache und Stammesbräuchen. Die Deutschen übernahmen das Wort im Lauf des 11. und 12. Jahrhunderts, es war praktikabler und wirklichkeitsnäher als die Marken, auch jenseits der sich immer deutlicher bemerkbar machenden Bürokratien, etwa beim schlichten Aufteilen von Ackerflächen am Gasthausstammtisch.


Früher hatte man sich da mit „Gemerke“ herumschlagen müssen, mit lässiger, gerade noch wahrnehmbarer Markierung dessen, was diesem oder jenem gehörte. Jetzt hatte man, von den Wenden und anderen slawischen Stämmen übernommen, die „Grenze“, die scharfe Abgrenzung, an der es nichts mehr zu rütteln gab. Man sprach nun von Grenzlinien, von Grenzgebieten, bald auch von Grenzwächtern, die verdächtige Grenzgänger beobachten und gegebenenfalls festnehmen sollten. Eine ganze neuartige Grenzrhetorik bildete sich allmählich heraus.

Immerhin darf man konstatieren: Der Umstand, daß die Deutschen kein eigenes Wort für die Grenze bildeten, sondern es – mit ziemlicher Verzögerung – dem Slawischen entlehnten, läßt darauf schließen, daß sie von Natur aus nicht sonderlich an definitiven Grenzziehungen interessiert waren, daß sie eher liberaleren, die Konturen verwischenden Regelungen zuneigten. Bismarck hat darüber eine kritische Bemerkung gemacht: gute Politiker müßten spontan ein gutes Grenzverständnis haben, siehe die Russen, siehe die Franzosen und die Engländer.

Bei den beiden letzteren drückt sich dieses Verständnis bei der Wortwahl geradezu martialisch aus, ihr Wort für geographische Grenzen lautet  „frontière“, „frontier“ und ist tatsächlich identisch mit der militärischen Front, wo es also kracht und knallt und wo einem jederzeit die Kugeln um die Ohren fliegen können. Zwar gibt es auch einen „friedlichen Grenzverkehr“, er ist heutzutage sogar der Normalzustand, aber auch bei ihm gilt es, stets Augen und Ohren offenzuhalten und mit „Vorkommnissen“ zu rechnen.

Eine Preisgabe staatlicher Grenzkontrollen bedarf demnach höchster zwischenstaatlicher Verabredungen und penibelster Bündnisverträge. Was die Kanzlerin Angela Merkel, ohne ihre Bündnispartner vorher zu befragen, mit ihrer Freigabe völlig ungezügelter Einwanderung nach Mitteleuropa und ihrer aufdringlichen „Willkommenskultur“ angerichtet hat, ist in dieser Sicht nicht nur ein Hohn auf jederlei moderne Staatspolitik, sondern ein schweres Verbrechen gegen die wichtigsten Paragraphen europäischer Verträge.


Trotzdem wäre es kurios, in der Merkelschen Nichtgrenzpolitik einen bewußten Affront gegen europäische Verträge zu sehen oder gar ein spontanes, urdeutsch-ottonisches Aufbegehren gegen den Begriff der modernen Grenze überhaupt. Allenfalls ließe sich an das Trauma denken, das die Deutschen in der DDR (wie die Polen, die Tschechen und andere Mittelosteuropäer) durch das jahrzehntelange kommunistische Grenzregime erleiden mußten und das voller mörderischer Grausamkeiten und unkomischer Absurditäten war.

Allerdings richtete sich dieses Regime nicht gegen Einwanderer (wer wollte schon bei den Bolschewiken einwandern!), sondern gegen die eigene Bevölkerung in den von den Sowjets unterworfenen Staaten. Millionen von Menschen wurden wie Arbeitssklaven ohne Urteil gefangengehalten, und wer fliehen wollte, wurde von Grenzsoldaten oder Selbstschußanlagen erschossen oder von Minen entlang der Grenze in die Luft gejagt. Werner Herzog, der große Schriftsteller und Regisseur, der damals die innerdeutsche Grenze intensiv abwanderte, nannte Deutschland „das Land, das nur noch aus Haut, aus Grenze besteht“.

Die westdeutsche Regierung in Bonn organisierte die „Freikaufsaktion“, das heißt, sie zahlte dem Ost-Berliner Regime viele Millionen, damit es bestimmte, namentlich zu nennende Bürger in den Westen ziehen ließ. Es gab viele behördliche Regelungen, auch „Starthilfen“, aber eine Willkomenskultur à la Merkel gab es nicht, im Gegenteil. Berlins Regierender Bürgermeister, Pfarrer Heinrich Albertz (SPD), sagte, das seien doch alles bloße Wirtschaftsflüchtlinge, „Wohlstandsflüchtlinge“, denen man nicht einmal einen Blumenstrauß überreichen sollte. Und Bundesminister Joschka Fischer (Die Grünen) wollte die Flüchtlinge sogar ganz schnell zurückschicken.

Nun ja, es handelte sich eben nicht um Leute aus Eritrea oder Syrien, sondern um deutsche Landsleute aus der DDR. Die hiesigen Politiker wollten sich schon damals nicht „völkischer“ Absichten zeihen lassen. Alles hat schließlich seine Grenzen.