© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/15 / 23. Oktober 2015

Die entzauberte Republik
Asylkrise: Während im Westen eine „Willkommenskultur“ herrscht, gibt es im Osten offenen Protest
Thorsten Hinz

Der anhaltende Zustrom von Zuwanderern macht erneut die mentale Teilung des Landes deutlich. Sie verläuft entlang der alten Demarkationslinie zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Betroffen von der dramatischen Entwicklung, die auf ein Ende des Sozial- und Rechtsstaats, der inneren Sicherheit und der tradierten Lebenswelt hinausläuft, sind Ost und West gleichermaßen. Die Politik erklärt sich außerstande, die Grenzübertritte zu stoppen oder auch nur zu steuern. Nach außen signalisiert der Staat seine Schwäche, nach innen kündigt er die Verpflichtung für das Staatsvolk und seine Schutzfunktion auf. In diesem Sinne ist die Bundesrepublik auf dem Wege, ein gescheiterter Staat zu werden.

Die Reaktionen darauf sind je nach Himmelsrichtung unterschiedlich. Im Westen herrscht Schockstarre. Mitunter äußert sich schüchterner Widerspruch, der sofort von einer medial potenzierten „Willkommenskultur“ übertönt wird. Es handelt sich um einen moralischen Hedonismus, der sich an der eigenen Großartigkeit ergötzt und belegt, daß der Konsumismus längst auch das Gebiet der Moral okkupiert hat. Im Osten gibt es offenen Protest und Demonstrationen, vor allem in Sachsen und Thüringen, die sich schon im 89er-Wendeherbst am widerständigsten zeigten.

Aus der Erinnerung an 1989 speist sich das Selbstbewußtsein, aber auch die Erfahrung, daß scheiternde Staaten fähig und bereit sind, alles mit in den Abgrund zu reißen. Auch die DDR war letztlich an der Grenzfrage gescheitert: Zu schwach, um die Menschen von seiner Legitimität zu überzeugen, sperrte er sie ein, ohne ihnen eine lebenswerte Perspektive im abgezäunten Areal zu bieten. Der gesteigerten Verzweiflung über den Verfall der Lebenswelt – der Infrastruktur, der historischen Innenstädte, der vergifteten Umwelt – konnte die Führung schließlich nicht anderes begegnen als mit der stupiden Tautologie des Machterhalts. Die dauernde Frustration verdichtete sich zu der Erkenntnis, daß es sinnlos war, auf eine Besserung innerhalb der gegebenen Strukturen zu hoffen. Man mußte sie in Frage stellen: durch das Verlassen des Landes oder, besser noch, durch öffentlichen Protest.

Der aktuelle Protest, so unelegant er sich gelegentlich artikuliert, besitzt eine andere Qualität als die Zornesausbrüche von 1992/93, als den Menschen in der Ex-DDR gerade klar wurde, daß die angekündigten „blühenden Landschaften“ zwischen Ostsee und Erzgebirge auf sich warten lassen würden. Sie leiteten den schmerzhaften Abschied von Illusionen über die neue Gesellschaftsordnung und von eigenen naiven Erwartungen ein. Der Prozeß der Desillusionierung ist mittlerweile abgeschlossen.

Nun wird nüchtern verglichen und erkannt, daß Angela Merkel mit der unbegründeten Versicherung „Das schaffen wir!“ den fröhlichen Honecker-Spruch „Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“ neu aufgelegt hat. Unter Honecker durfte die Frage nach der Richtung, in die marschiert wurde, nicht gestellt werden. Heute wird jeder Zweifel, ob und warum man „das“ – die Aufnahme Millionen Fremder – denn überhaupt schaffen solle, als Zeichen volksverhetzerischer Gesinnung inkriminiert. Damals wie heute regiert ein zerstörerischer Zweckrationalismus.

Seine Folgen betreffen, wie gesagt, Ost und West gleichermaßen. Trotzdem sind die Reaktionen unterschiedlich. Das hat wesentlich mit den unterschiedlichen Verhältnissen vor Ort zu tun. In vielen Gegenden Westdeutschlands haben die demographischen Verhältnisse sich schon so weit verschoben, daß ein Aufbäumen gegen weitere Verschiebungen als sinnlos und gefährlich und das Arrangement bis hin zur Unterwerfung als einzig vernünftige Verhaltensweise erscheinen.

Abgeräumt sind hier auch die geistigen und moralischen Widerstandslinien. Das bundesdeutsche System war unbestritten das bessere und wurde durch die Begeisterung, mit der die DDR-Bürger sich 1989/90 in seine Arme stürzten, glänzend bestätigt. Vergessen wurde darüber der staatliche Souveränitätsdefekt, der an seiner Wiege stand und sich über die Wiedervereinigung hinaus fortsetzte. Beschwiegen und verdrängt, hat er sich in die Kollektivpsyche eingesenkt und den Willen zur Selbstbehauptung paralysiert. Abgesehen davon, daß ein braver, durchschnittlicher Bundesbürger heute gar nicht mehr auf die Idee kommt, ein Hausrecht im eigenen Land geltend zu machen und die ungewollte Zuwanderung und ihre mannigfachen Zumutungen grundsätzlich zurückzuweisen, stünden ihm dafür auch gar keine Vokabeln zur Verfügung. Der jahrzehntelang indoktrinierte Menschenrechtsjargon gibt die entsprechende Argumentation nicht her, und anders als Bürger der früheren DDR ist er in geistiger Republikflucht ungeübt.

So blicken viele – von den Medien aufmunitioniert – pikiert auf die peinliche Verwandtschaft im Osten, die noch immer nicht über hinreichend interkulturelle Erfahrungen verfügt und deshalb vorgestrig, zurückgeblieben, nach wie vor von der Diktatur geprägt erscheint. Die Ost-Verwandten – gebrannte Kinder ohnehin – sehen das anders. Sie müssen sich nicht erst eine neue Verbrennung dritten Grades zuziehen, um zu wissen, daß die Berührung einer glühenden Herdplatte schädlich ist. In Dresden oder Rostock ist man über die Zustände in Duisburg-Marxloh oder Berlin-Neukölln gründlich orientiert. Man möchte sie schlichtweg bei sich nicht haben. Der real existierende Westen ist kein Vorbild mehr, er entwickelt sich zum Schreckbild!

Man sollte meinen, daß eine Kanzlerin aus dem Osten den innerdeutschen Riß schließen würde, doch das Gegenteil ist der Fall. Ein Paradox, das leicht zu erklären ist. Im Osten kannte man – um mit Karl Kraus zu sprechen – die große Kanzlerin bereits, als sie noch ganz klein war. Zwar nicht persönlich, aber als durchschnittlichen Verhaltenstyp. Man kann ihn an ihr noch immer identifizieren. In ihrer Beflissenheit, mit der verdrucksten und vorgestanzten Sprache, der autoritären Hörigkeit und opportunistischen Anpassungsfähigkeit, die sie ausstrahlt, verkörpert die Kanzlerin genau jene Eigenschaften, die den DDR-Bürgern nach 1989 aus dem Westen vorgeworfen wurden – und die sie sich selbst vorwarfen! Nun sehen sie verblüfft, daß es gerade diese Züge – ins Monströse gesteigert – sind, die Merkel an die Spitze des Staates geführt haben. Ihre Kanzlerschaft hat in der Ex-DDR mehr zur Entzauberung der Bundesrepublik beigetragen als alle Bundestagsreden und Talkshow-Auftritte von Gregor Gysi und Sahra Wagenknecht zusammen.

Der aktuelle Protest in der Ex-DDR ist der Versuch, die eigenen Fehler aus der Wiedervereinigung zu korrigieren. Er gilt dem ganzen Land. Ob er verstanden wird und erfolgreich sein wird, steht dahin.