© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/15 / 23. Oktober 2015

Die beste Zeit im Leben
Kino II: „Unser letzter Sommer“ über Freundschaften und Liebe Heranwachsender 1943 im besetzten Polen
Sebastian Hennig

Ein Film über Heranwachsende ist „Unser letzter Sommer“. Die ersten ernsten Liebesabenteuer der vier jungen Leute werden im Sommer 1943 in Ostpolen um einiges ernster als in gewöhnlichen Zeiten an stilleren Orten. Wenn hier an „jenen verborgenen schuldigen Fluß-Gott des Bluts“ gerührt wird, als den Rainer Maria Rilke den aufbrechenden Geschlechtstrieb in der dritten Duineser Elegie besingt, dann bleibt er nicht im Unsichtbaren. Wie durch eine zarte Membran kommt das Blut unter dem Druck der Umstände immer wieder tödlich an die Oberfläche und netzt dabei ganze Bereiche des Daseins mit dem berückenden Dunst vergehender Kraft und vergeudeten Lebens.

Das liegt schon in der Ausgangslage der vier jungen Menschen begründet. Die bleibt zunächst im dunkeln und wird nur in Bruchstücken von den Dialogen belichtet. Ob Romeks (Filip Piotrowicz) Vater bei der Landesverteidigung Polens ums Leben kam oder, wie der Sohn glauben möchte, sich in letzter Minute nach London absetzen konnte, wird nicht geklärt. Seine Mutter wird von seinem Chef, dem Lokführer Leon (Bartlomiej Topa), umworben und bedrängt.

Das 16jährige jüdische Mädchen Bunia (Maria Semotiuk) ist, wie ihr Bruder, kurz vor ihrer Ankunft im Lager Treblinka aus dem Zug gesprungen. Der 17jährige Soldat Guido (Jonas Nay) wurde wegen des Anhörens von „entarteter“ Musik zum Dienst in einem Feldgendarmerieposten im hintersten Polen verdonnert. Dort soll er die Bahnstrecke sichern, nach Flüchtlingen suchen und Partisanen aufspüren. Die Bauerntochter und Hilfsköchin Franka (Urszula Bogucka), 16 Jahre jung, leidet kaum geringer als ihre Altersgenossen. Die aufblühende Schönheit fühlt sich vernichtet von der Wirklichkeit des bäuerlichen Milieus, in das sie verwiesen ist. Der Krieg muß ihr wie ein glückliches Los erscheinen. Die beiden Jungs haben ein Auge auf Franka geworfen, sie erwidert Guidos Gefühle, während Romek die verletzte Bunia findet und ihr hilft. Alle vier zerren sie an ihren unterschiedlich festen Ketten. Doch allemal reißen sie sich dabei das eigene Fleisch wund bis auf den Tod. Die Abstufungen des Leidens und der Leidenschaft begegnen sich in gegenläufigen Zyklen.

Die Rollenzuweisung, auch zu den älteren Figuren, ist außerordentlich gut gelungen. Mit einem überschaubaren Budget ist ein großer Film über eine bedeutende Zeit entstanden. Die Vorarbeit begann in polnischer Eleganz mit einer Bootsfahrt des Drehbuchautors und Regisseurs Michal Rogalski mit seinen deutschen jugendlichen Hauptdarstellern. Während des Biwaks auf der Insel verständigte man sich auf die Stimmung des Films.

Ein Ergebnis dieser feinen Verständigung ist eine der glaubwürdigsten und innigsten Kuß-Szenen, die im Kino seit langem zu sehen waren. Erst dabei fällt einem ein, daß dergleichen aus dem Kintopp fast völlig verschwunden ist. Verliebt ist man da offenbar kaum noch. Es herrscht rohes Begehren gegenüber dem anderen, und das Zartgefühl gilt vor allem den eigenen Bedürfnissen. In dieser Hinsicht hat dieser Film, in dem die Individuen unter die Räder kommen, große erzieherische Wirkung.

Rogalski hat zum Thema schon dokumentarische Arbeiten vorgelegt. „Unser letzter Sommer“ ist sein erster Spielfilm. Die Inspiration dazu kam ihm von einem Foto seiner Großmutter, auf dem drei junge Paare an einem Fluß tobten. Darunter stand: Mai 1943. Rogalski war gefangen von der Vorstellung der Gleichzeitigkeit des Leidens und der Leidenschaft. „Ich erinnere mich noch daran, daß meine Großmutter immer gerne Geschichten von damals erzählt hat. So paradox es klingt, es war vermutlich die beste Zeit ihres Lebens – und zwar nicht, weil bestimmte Dinge in der Welt passierten, sondern weil sie jung war.“

Eine junge Generation hat sich hier zu einem wohltuenden Geschichtsrevisionismus verabredet. So erlösend der für die eine Seite sein wird, so bedrückend für die andere. Die Grenze verläuft längst nicht mehr durch Nationen oder politische Lager. Es ist ein Generationsproblem.

Keine Zeit ist wohl je hierzulande derart hochmütig mit der Vergangenheit ins Gericht gegangen wie die unsrige. Schon die Frage danach, was wir getan hätten, ist grundfalsch. Der Film zeigt, daß es rein gar nichts zu entscheiden gab für den einzelnen, bevor er auf die Probe gestellt wurde. Anders als Filme wie „Gesprengte Ketten“, „Schindlers Liste“ oder „Die Brücke“ geht der vorliegende Film ungleich brutaler und doch gütiger mit den Menschen um. Wir erleben die ruppige Fürsorglichkeit des Feldwebels (André M. Hennicke), die Habgier von Romeks Mutter (Agnieska Kruk), die Rachsucht von Bunia und die Feigheit von Guido und Romek. Und keiner dieser Handelnden verdient unseren Vorwurf, auch nicht der Oberleutnant (Steffen Scheumann), der als neuer Kommandant mit pragmatischer Grausamkeit vorgeht. Ihn umweht dennoch eine resignative Trauer, in der unausgesprochen die Erfahrungen von der Ostfront mitschwingen mögen. 

Der Film hat sehr viel mit unserer gegenwärtigen Situation zu schaffen. Eine Identifikation mit seinen Hauptfiguren hält Rogalski für möglich: „Auch wenn es uns in Europa zur Zeit recht gut geht, geht es uns doch nicht so gut wie vor etwa fünf Jahren. Man sollte nicht daran denken, daß uns hier nichts passieren kann. Das wäre falsch. Die Hauptfiguren dieses Films haben gedacht, daß sie irgendwie durch den Krieg kommen, daß der irgendwo anders stattfindet und sie ein komfortables Leben haben werden. Das war falsch. So falsch, wie wir uns gerade sicher fühlen.“

Kinostart: 22. Oktober 2015 www.farbfilm-verleih.de/