© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/15 / 23. Oktober 2015

Eine Erbfeindschaft im Schlamm
Die Schlacht von Azincourt vor 600 Jahren markiert einen besonderen historischen Bezugspunkt in der Nationalerzählung Englands und Frankreichs
Karlheinz Weißmann

Am Abend des 25. Oktober 1415 traf der englische König Heinrich V. mit dem englischen und dem französischen Herold zusammen, die aus einiger Entfernung die Schlacht beobachtet hatten, und einigten sich darauf, nach welchem Ort diese künftige bezeichnet werden solle: Azincourt, nach einer in der Nähe befindlichen Burg. Der Sieg Heinrichs war ebenso unstrittig wie unerwartet. Der Feldzug, den er im August des Jahres begonnen hatte und der den später so genannten „Hundertjährigen Krieg“ beenden sollte, um Heinrichs Anspruch auf große Gebiete Frankreichs und die Krone des Landes zu bekräftigen, schien nicht einmal glimpflich abzulaufen.

Traditionell hat man ein Kräfteverhältnis von eins zu drei zwischen Engländern und Franzosen angenommen. Heute werden diese Zahlen in Zweifel gezogen, vielleicht lag die Relation eher bei zwei zu drei. Fest steht allerdings, daß die Truppen Heinrichs V. seit ihrer Landung in der Seinemündung, der folgenden Belagerung von Harfleur (östlich von Le Havre), der Dezimierung durch eine Ruhrepidemie und angesichts fehlender Versorgung mit Lebensmitteln stark zusammengeschmolzen waren. Von den ursprünglich 12.000 Mann blieben nur 8.000 am Leben, darunter etwa 7.000 Bogenschützen. 

Heinrich befahl Mord an französischen Gefangenen

Heinrich mußte deshalb trotz seiner Anfangserfolge einsehen, daß er seine strategischen Ziele nicht erreichen konnte. Der Marsch auf den englischen Stützpunkt Calais an der Kanalküste diente in erster Linie als Demonstration und enthielt ein kalkuliertes Risiko angesichts eines Gegners, dessen Handlungsfähigkeit durch einen Wahnsinnigen auf dem Thron – Karl VI. – und den Bürgerkrieg zwischen zwei Adelsparteien – Burgundern und Armagnaken – stark eingeschränkt war. Die inneren Konflikte hatten schon den Entsatz von Harfleur verhindert. Aber dann gelang es dem französischen Kronfeldherrn Charles d’Albret doch, Truppen zusammenzuziehen, und als die Engländer auf die Somme zuhielten, sahen sie sich mit einem deutlich überlegenen Verband von etwa 12.000 Mann konfrontiert. Heinrich versuchte einer Schlacht auszuweichen, überschritt am 19. Oktober den Fluß, konnte sich von den Franzosen aber nicht mehr lösen. Am 24. Oktober erhielt der König die Nachricht, daß das französische Heer den Weg nach Calais versperrte und zwischen den Orten Azincourt und Tramecourt Kampfposition bezogen hatte. 

Die militärgeschichtliche Bedeutung der Schlacht von Azincourt beruht vor allem auf der Tatsache, daß es hier Fußtruppen gelang, ein Ritterheer zu besiegen. Vergleichbares hatte es schon bei Kortrijk (1302), Morgarten (1315) und Crécy (1346) gegeben, aber bei Azincourt kam dem Vorgang ein besonderes Gewicht zu, weil er nichts Zufälliges mehr hatte, sondern symptomatisch erschien: Die Niederlage der adeligen Panzerreiter stand dafür, daß die Macht der Kriegerklasse des Mittelalters zu Ende ging. Den Einschnitt markierten nicht die wenigen Geschütze am Rand des Schlachtfelds, die eine Revolution der Waffentechnologie ankündigten, sondern der massierte Einsatz einer im Grunde antiquierten Waffe: des Langbogens, den die Soldkämpfer Heinrichs führten. Allerdings war dessen Effektivität nicht zu unterschätzen. Ein Bogner, der in das englische Heer aufgenommen werden wollte, mußte bis zu zehn Pfeile in der Minute verschießen können, und die Wucht des Aufpralls der Geschosse war bei kürzerer Distanz so groß, daß die Spitzen sogar einen Plattenharnisch durchschlagen konnten.

Kaum eine Schlacht des Mittelalters ist so gut rekonstruierbar wie die von Azincourt. Der Ablauf vollzog sich in mehreren, deutlich voneinander getrennten Schritten: Zuerst ließ Heinrich seine Bogenschützen bis auf dreihundert Meter an den Feind heranrücken; vor Ort rammten die Männer an beiden Seiten gespitzte Pfähle in den Boden, zwischen denen sie sich postierten. Dann folgte der Befehl, die französische Seite unter Beschuß zu nehmen; deren Reiterei ging daraufhin zur Attacke über. Ihr mißlang der Durchbruch, wahrscheinlich in Folge eines weiteren Pfeilhagels, aber möglicherweise auch, weil die Pferde zum Teil in die Pfähle des „Igels“ rannten oder vor diesem Hindernis scheuten und kehrtzumachen suchten. 

Daß in den Reitertruppen viele hundert Sprößlinge wichtiger französischer Adelsgeschlechter dienten und fielen, wird später als bestandsgefährdend für die Grande Nation über die nächsten Generationen gedeutet. Tatsächlich dürfte der Tod oder die Azincourt folgende jahrelange Gefangenschaft von einigen Dutzend einflußreichen Hochadeligen für den weiteren Verlauf des Hundertjährigen Krieges eine Auswirkung gehabt haben, ansonsten dürfte gemessen an der Zahl von mehreren hundert Rittern dieser Mythos des Opfergangs quantitativ eher überzogen sein.

Im Schlachtverlauf wurde das Chaos auf französischer Seite noch dadurch verstärkt, daß die fliehenden Reiter mit den eigenen, schwergepanzerten Fußtruppen zusammenprallten, die sich ebenfalls auf den Vormarsch begeben hatten. Trotzdem setzten die Franzosen ihren Angriff fort, trafen auf die englischen Gewappneten, die von ihren Pferden abgestiegen waren, brachten sie kurzzeitig in Bedrängnis, konnten aber keinen Erfolg erzielen, weil sie sich durch ihre eigene Massierung behinderten. Daraufhin drängten die Engländer vor, unterstützt von den Schützen, die ihre Bogen fallengelassen hatten und mit Äxten, Keulen und Schwertern in das Gefecht eingriffen. 

Die zweite Linie der Franzosen, die sich mittlerweile in Bewegung gesetzt hatte, verstärkte nur das Chaos. Heinrich griff an der Spitze seiner Reiterei selbst in den Kampf ein, und schließlich brach der französische Angriff vollständig zusammen. Kämpfer, die noch am Leben waren und zu fliehen suchten, stürzten auf dem regennassen und glatten Boden oder wurden durch die verwundeten oder toten Menschen und Pferde am Weiterkommen gehindert; die leichter gerüsteten Fußtruppen der Engländer nahmen sie gefangen oder erschlugen sie an Ort und Stelle, wenn kein Lösegeld zu erhoffen war. 

Entschieden war die Schlacht zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht. Vielmehr fürchtete Heinrich nach einem weiteren Scharmützel und dem Überfall der örtlichen Bauern auf das englische Lager das Eingreifen der verbliebenen französischen Truppen. Er befahl deshalb, die Gefangenen zu töten, die ein unkalkulierbares Risiko darstellten, falls dem Feind der Durchbruch gelang. Dem Massaker gebot er erst Einhalt, als sich die Reste der Franzosen zurückzogen. Am Morgen des 26. Oktober 1415 marschierte Heinrich mit seinen Männern über das Schlachtfeld und führte neben der Beute mehr als zweitausend Gefangene nach Calais.

Die stolzeste Stunde des mittelalterlichen Englands 

In England wurde Heinrich mit Begeisterung empfangen, und ohne Zweifel mischte sich in den Jubel eine gewisse Erleichterung. Denn aufgrund der Nachrichten vom Kontinent hatte mancher eher mit einer Niederlage als mit einem Sieg gerechnet. Der Erfolg hat die Stellung des Königs auch im Inneren gestärkt und ihm vor allem die Unterstützung für die nächsten Feldzüge eingebracht, die zwischen 1417 und 1419 zur Eroberung der Normandie führten, und im Folgejahr zum Vertrag von Troyes, der Karl VI. zwang, Heinrich als Lehensherrn anzuerkennen. 

Die Vorstellung von Azincourt als „finest hour“ des mittelalterlichen England hat sich allerdings erst nachträglich ausgebildet. Seit dem 16. Jahrhundert spielte nicht mehr nur der Stolz auf den Sieg über den französischen Erbfeind oder das Bewußtsein, als Schwächerer triumphiert zu haben, eine Rolle, sondern auch und immer stärker die Vorstellung, daß sich im gemeinsamen Kampf von König, Rittern und Bogenschützen die Nation als Einheit abgebildet hatte, ein Motiv, das Shakespeare in seinem Drama „Heinrich V.“ aufgriff, wenn er den König vor der Schlacht zu seinen Männern sagen läßt: „We few, we happy few, we band of brothers.“