© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/15 / 23. Oktober 2015

Luther und die Reformation der Kirche
Wie Martin Luther aufwuchs und seinen Vater schwer enttäuschte, wie er ein Mönch wurde und dann evangelisch, wie er die Bibel ins Deutsche übersetzte und wie sich der neue Glaube verbreitete / Folge 4
Karlheinz Weißmann

Irgendwann am 10. November 1483 muss in dem ansehnlichen Haus, das am Rand der Innenstadt von Eisleben stand, das Geschrei eines Säuglings zu hören gewesen sein. Die Frau des Besitzers, Margarethe, wird sicher erschöpft gewesen sein von den Anstrengungen und den Schmerzen der Niederkunft, und ihr Mann, Hans Luther, dürfte stolz seinen Erstgeborenen auf den Armen gehalten haben. Vielleicht hatte Martin Luther noch einen älteren Bruder, der aber jung gestorben sein muss. Ihn selbst jedenfalls ließen die Eltern schon am folgenden Tag in der nahe gelegenen St. Petri-Pauli-Kirche taufen. Damit, so die Überzeugung der damaligen Zeit, war er dem besonderen Schutz Gottes unterstellt. Auch sonst müssen die Luthers fromme Leute im Sinn der Kirche gewesen sein. Sie besuchten die Messe, gingen zur Beichte, beteten morgens, abends, zu jeder Mahlzeit, verehrten die »Mutter Gottes« Maria und die Heiligen. Die Heiligen, so die Lehre der katholischen Kirche, waren vorbildliche Christen gewesen, oft für ihren Glauben gestorben, die man bitten konnte, bei Gott ein gutes Wort einzulegen. Sie standen – wie übrigens auch Maria – den Menschen näher, denen Gott und sein Sohn Jesus Christus als ferne, furchteinflößende und strenge Gestalten erschienen. Unter allen Heiligen, so erzählte Luther später, war die wichtigste für ihn die heilige Anna. Das erklärt sich daraus, dass sie als Schutzheilige der Bergleute galt und deshalb im Haus seines Vaters als besonders verehrungswürdig galt. Denn Hans Luther war ursprünglich Bergmann gewesen und hatte also eine außerordentlich gefährliche Arbeit gehabt. Da lag es nahe, die heilige Anna immer wieder um Schutz zu bitten, dass man heil und gesund aus den Stollen und Schächten tief unter der Erde zurückkam.

Im Lauf der Zeit konnte sich Hans Luther vom einfachen Bergmann zum Bergwerksbesitzer hocharbeiten. Er muss ein außerordentlich fleißiger und zielstrebiger Mann gewesen sein. Und, wie es oft bei solchen »Aufsteigern« ist: er wollte unbedingt, dass es seinen Kindern einmal noch besser gehen sollte als ihm. Das galt vor allem für den Ältesten. Wahrscheinlich träumte Hans Luther nicht nur davon, dass sein Sohn Martin eine bessere Schulausbildung erhalten sollte, er plante auch, dass er die Universität besuchen und das Fach studieren sollte, das die besten Möglichkeiten bot, weiter nach oben zu kommen: Rechtswissenschaften. Denn ein Jurist konnte nicht nur Anwalt oder Richter werden, sondern auch Fürstenberater, und dann – der Gedanke war atemberaubend – wurde es sogar möglich, in den Adel erhoben zu werden.

Aus alledem wurde nichts. Martin Luther besuchte zwar, wie sein Vater gewünscht hatte, die Schule und ging dann an die Universität. Aber am 2. Juli 1505 geschah etwas, das sein ganzes Leben verändern sollte. Er geriet in ein furchtbares Gewitter und fürchtete, vom Blitz erschlagen zu werden. Da erinnerte er sich der heiligen Anna und flehte sie um Hilfe an. Und er versprach ihr, sollte sie ihn retten, werde er ins Kloster gehen und ein Mönch werden. Tatsächlich kam Luther davon und war entschlossen, nun sein Versprechen in die Tat umzusetzen.

Wir wissen ziemlich genau, dass alle Freunde Luthers dagegen waren. Und erst sein Vater! Der sah alle seine Hoffnungen zerschlagen: keine Karriere, kein Reichtum, kein Titel für den Sohn. Stattdessen Armut, Ehelosigkeit, Gehorsam. Das hieß auch, dass Luther keine Kinder haben würde, er die Familie nicht fortsetzen konnte. Aber Martin Luther war sich seiner Sache ganz sicher. Nichts konnte ihn von seinem Entschluss abbringen. Am 15. Juli 1505 trat er in das Kloster der Augustinermönche in Erfurt ein. Er scheint da zum ersten Mal das Gefühl gehabt zu haben, dass es für ihn in der richtigen Art und Weise voranging. Jedenfalls wurde er mit Feuereifer Mönch, mit solchem Feuereifer, dass seine älteren Brüder im Kloster sich nur wundern konnten. Luther beichtete noch die kleinste Kleinigkeit, die er falsch gemacht zu haben glaubte, er nahm jede Strafe auf sich und bestrafte sich sogar selbst, wenn er meinte, dass die Strafe zu milde sei. Gleichzeitig begann er Theologie zu studieren, wurde zum Priester gemacht, dann Doktor und schließlich sogar Professor für die christliche Lehre an der Universität Wittenberg.

Man kann sich vorstellen, dass Luther einer jener Mönche geworden wäre, die ihre Orden oder sogar die ganze Kirche zu erneuern versuchten. Wir erinnern uns an Benedikt oder Bernhard von Clairvaux. Aber wieder lief es nicht so, wie man eigentlich annehmen müsste. Denn am 31. Oktober 1517, Luther hatte die Mitte Dreißig noch nicht erreicht, brachte er an der Tür der Schlosskirche zu Wittenberg »95 Thesen« an. Vielleicht hat er nicht – wie man lange glaubte – mit dem Hammer Papierbogen an die Schlosskirche genagelt, obwohl das ein schönes Bild gibt, aber in jedem Fall wirkte der Inhalt seiner Aussagen (nichts anderes bedeutet das Wort »These«) wie eine Menge wuchtiger  Schläge, die vieles zertrümmerten, was die Kirche als richtig behauptete.

Vordergründig ging es bei Luther um den »Ablass«. Das war eigentlich eine ganz menschenfreundliche Idee der Kirche gewesen, insofern sie erlaubte, dass man die Strafen – man sprach von Bußleistungen –, die man für bestimmte Sünden durch einen Priester auferlegt bekam, mittels Geldzahlung ersetzen konnte. Also etwa: Mach eine Wallfahrt nach Santiago de Compostela oder zahle einen bestimmten Betrag dafür. Allerdings war der Ablass im Lauf der Zeit zu etwas geworden, was mit dieser Art Ersatz nichts mehr zu tun hatte. Das hatte ganz wesentlich mit der Geldgier der Kirche, insbesondere der Päpste, zu tun, die ihre Stadt Rom mit immer neuen, immer teureren Bauten und Kunstwerken schmücken wollten. Also hatten die Päpste angefangen zu behaupten, dass man auch für die Strafen, die man im Jenseits, in der Vorhölle des Fegefeuers, abzubüßen hatte, zahlen könnte, und dass es möglich sei, sich mit Geld überhaupt von jeder Art Sünde frei zu machen. Dem berühmtesten Ablass-händler zu Luthers Zeit, einem Mann mit Namen Tetzel, wird der Werbespruch zugeschrieben: »Wenn’s Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer in den Himmel springt!« Einmal allerdings soll Tetzel an den Falschen geraten sein. Da fragte ihn ein Ritter, ob man denn auch für Sünden Ablass erwerben könne, die man noch gar nicht begangen habe. Tetzel witterte ein Geschäft und sagte hastig »Ja!« Also bezahlte der Ritter für einen Raub, den er erst noch begehen wolle – denn es handelte sich um einen Raubritter –, und Tetzel strich das Geld ein, das er ihm gab. Kaum war das geschehen,  zog der Ritter sein Schwert, setzte es Tetzel an die Kehle und nahm ihm alles ab, was er besaß. Als er dann davonritt, bedrohte ihn Tetzel mit allen Verwünschungen und der Strafe Gottes, aber der Ritter lachte nur und meinte, ihm könne nichts passieren, er habe ja schon den Ablass für diesen Raub geleistet.

Es gab eine ganze Zahl von Menschen, die den Ablasshandel kritisierte, wie Tetzel ihn betrieb. Aber Luther ging es nicht um den Missbrauch des Ablasses, sondern um den Ablass selbst. Durch seine Beschäftigung mit dem Neuen Testament war er zu dem Ergebnis gekommen, dass es nicht der christlichen Lehre entsprach, Gottes Gnade zu verkaufen, mehr noch, dass man sich die Gnade Gottes überhaupt nicht erarbeiten konnte durch menschliche Leistungen. Vom Menschen werde tatsächlich – das war die Botschaft des Jesus von Nazareth – nichts verlangt, als an Gott zu glauben, das heißt Vertrauen zu seinem Schöpfer haben, der sich dem Menschen zuwendet und ihn liebt, – obwohl der Mensch das eigentlich gar nicht verdient. In den 95 Thesen war übrigens noch keine Rede davon, dass Luther die Kirche im ganzen für verdorben hielt oder den Papst absetzen wollte. Das kam erst später. Denn Luther hatte mit seiner Aktion in Wittenberg eine Lawine ausgelöst. Die Thesen wurden aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt und immer weiter verbreitet. Vielen sprach er offenbar aus dem Herzen, die das Gefühl hatten, dass mit dem Christentum irgend etwas nicht in Ordnung sei. In kurzer Zeit war der bis dahin ganz unbedeutende Theologieprofessor und Mönch Martin Luther in Deutschland und darüber hinaus ein berühmter Mann. Natürlich haben der Papst und dann der Kaiser, Karl V., sobald sie von der Sache erfuhren, beschlossen, mit dieser neuen Ketzerei ein Ende zu machen. Luther wurde aufgefordert, seine Lehre zurückzunehmen – was er nicht tat. Daraufhin hat der Papst ihn gebannt – was Luther damit beantwortete, dass er die Urkunde, in der der Bann festgelegt war, öffentlich verbrannte. Schließlich befahl ihm der Kaiser, nach Worms zu kommen und sich seinem Gericht zu stellen – was dazu führte, dass Luther seine Sachen packte und sich auf den Weg machte. Es wurde ein Triumphzug. Überall wurde Luther mit Jubel empfangen, vornehme Patrizier spannten die Pferde seines Wagens aus und zogen ihn selbst in ihre Städte. Aber Luther hatte natürlich auch das Schicksal von Jan Hus vor Augen, und als er in Worms vor den Kaiser treten sollte, da hieb ihm Georg von Frundsberg, der berühmteste Krieger im Dienst des Kaisers, seine schwere Hand auf die Schulter und sagte ihm: »Mönchlein, Mönchlein, du tust einen schweren Gang.«

Was dann geschah, haben Maler später oft in Bildern festgehalten. Da sieht man den Kaiser auf dem Thron, umgeben von den Fürsten und den Abgesandten des Papstes. In der Mitte des Saals steht Luther. Gerade hat der Kaiser Luther entgegengehalten, dass es doch nicht sein könne, dass der Papst und mit ihm die hochgelehrten Männer der Kirche im Unrecht seien, während er allein, der kleine Mann aus Wittenberg, im Recht sei. Und Luther hat stolz geantwortet, dass er sich nicht beugen werde, es sei denn man widerlege seine Lehre mit Gründen der Vernunft oder mit Gründen aus der Bibel. Da das nicht möglich war, folgte er seinem Gewissen und schloss mit den berühmten Worten: »Hier stehe ich, Gott helfe mir. Amen!«

Das »Gott helfe mir« war bitterernst gemeint, denn Luther wusste natürlich, was nun folgen musste. Der Kaiser verhängte die Reichsacht über ihn, das heißt, er war »vogelfrei«. Niemand durfte ihm helfen, jeder durfte ihm schaden, also ihn auch töten, ohne bestraft zu werden; wer ihn gefangennahm, war verpflichtet, ihn auszuliefern. Wenigstens konnte er noch Worms verlassen. Aber auf dem Weg zurück in seine Heimat wurde der Wagenzug Luthers überfallen und er selbst verschleppt. Für Monate blieb er verschwunden. Bestimmt haben sich viele, die ihn kannten, Familie und Freunde, große Sorgen gemacht, ihn sogar für tot gehalten. Aber dafür gab es gar keinen Grund. Luthers Landesherr, der Herzog Friedrich der Weise von Sachsen, hatte nämlich eine glänzende Idee gehabt und den Überfall nur vorgetäuscht. Dann war Luther auf die Wartburg gebracht worden, musste sich einen Bart wachsen lassen, damit man ihn nicht sofort erkannte, und sich sonst so unauffällig wie möglich verhalten, damit weder die Agenten des Papstes noch die des Kaisers ihn finden konnten.

Luther hat die Zeit auf der Wartburg gut genutzt und das Neue Testament  endlich vollständig ins Deutsche  übersetzt. Selbst die, die mit Luthers religiösen Auffassungen nichts anzufangen wissen, geben zu, dass das eine bedeutende Tat war. Denn da in Zukunft alle, die lesen konnten, sich mit diesem Teil der Bibel befassten, lernten sie an Luthers wundervoller Sprache, wie man gutes Deutsch sprach und schrieb. Als Luther dann im März 1522 von der Wartburg nach Wittenberg zurückkehrte, war der Umsturz in der Kirche in vollem Gang. Priester und Gemeinden wandten sich an ihn und fragten, was zu tun sei, Klöster lösten sich auf, Nonnen und Mönche liefen davon, weil sie verstanden hatten, dass ein Leben in Ehelosigkeit und ständiger Angst vor der Hölle nicht nach Gottes Willen sei, und in großen Teilen Deutschlands erhoben sich die Bauern gegen ihre adligen Herrn, weil sie glaubten, dass nicht nur der Glaube frei sein müsse, sondern auch der Mann. Das hat Luther für ein Missverständnis gehalten und – nach einigem Zögern – gegen die Bauern geschrieben. Als die Herren die Bauern in diesen »Bauernkriegen« besiegten und furchtbare Greuel unter ihnen anrichteten, tat ihm das wieder leid.  Aber machen konnte er nichts, denn außer der Macht des Wortes hatte er keine Macht.

Also predigte und schrieb er. Im Zentrum standen für ihn drei Gedanken: Für den Christen geht es nur um den Glauben an Gott und Christus, nicht noch um Maria und die Heiligen. Für den Christen steht alles Wichtige in der Bibel; was Menschen zu sagen haben, etwa der Papst, ist demgegenüber unwichtig. Und es kommt nur auf den Glauben eines Menschen an, nicht etwa darauf, irgendwelche vorgeschriebenen Taten zu erbringen. Aber darüber hinaus hat Luther sich auch noch mit Ehe und Kindererziehung, der Notwendigkeit, Schulen einzurichten und die Armen zu versorgen, Fragen der Poli- tik und der richtigen Kirchenordnung befasst; außerdem stammen die Texte für mehr als fünfzig Lieder von ihm, viele davon finden sich bis heute in den evangelischen Gesangbüchern. Trotz dieser ungeheuren, fast übermenschlichen Leistung, wird man feststellen müssen, dass Luthers Vorstellung von einer »Reformation«, also einer vollständigen Erneuerung der Kirche, gescheitert ist. Das war zum Teil seine eigene Schuld. Manches, was er sich vorstellte, war nicht gut genug durchdacht. Er konnte vorschnell oder aufbrausend und unduldsam sein. Luthers organisatorische Fähigkeiten hatten Grenzen. Aber in erster Linie scheiterte Luther an den Widerständen. Die Kirche war und blieb ein mächtiger Gegner. Und dasselbe galt für den Kaiser und viele Fürsten. Zuerst schien es so, als ob die neue, wirklich auf das Evangelium gegründete, also »evangelische«, Lehre nichts aufhalten könne. Fast ganz Deutschland und überall da, wo man die deutsche Sprache verstand, in den Niederlanden und in Teilen Frankreichs, Italiens, in der Schweiz, in Skandinavien und an der ganzen Ostseeküste entlang, wurde man »lutherisch«. Aber das hielt nicht. Die katholische Kirche leitete eine »Gegenreformation« ein. Das hieß nicht einfach, dass sie zu den alten Zuständen zurückkehrte, sondern dass sie versuchte, von Luther zu lernen. Sie war dabei ziemlich erfolgreich, aber eine der Fol- gen war eben, dass zukünftig durch die europäische Christenheit ein tiefer Riss verlief: zwischen Evangelischen (oder Protestanten, also denjenigen, die gegen die alte Kirche protestierten) und Katholiken.

Luther hat sich einmal den »Propheten der Deutschen« genannt. Und an die Propheten des Alten Testaments erinnert bei ihm vieles: seine Wortgewalt, sein Mut, sich gegen die Obrigkeit aufzulehnen, seine Überzeugung, dass man Gottes Geboten Geltung verschaffen müsse. Aber er konnte doch nicht verhindern, dass die Glaubensspaltung in seinem eigenen Vaterland am allertiefsten sein würde.