© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/15 / 30. Oktober 2015

Bei den Schleusern von Aksaray
Istanbul: Die türkische Metropole ist Drehkreuz für die illegale Einreise nach Europa / Ob Rettungswesten oder falsche Pässe – hier gibt es alles
Hinrich Rohbohm

Die Begegnung ist kurz. Ein älterer Mann mit Halbglatze und dunklem Anzug erscheint in einem der kleinen Parks von Aksaray, einem Stadtteil von Istanbul. Er wirkt ein wenig fremd zwischen all den Männern und Frauen, die – meist mit löchrigen Jeans bekleidet – auf einer kleinen Mauer oder im Gras des Parks sitzen und deren Kinder sich auf den nahe gelegenen Spielplätzen vergnügen. Was auf den ersten Blick wie der Ausflug mehrerer Großfamilien erscheint, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Sammelpunkt für Migranten. Trotz Temperaturen von 20 Grad haben sie dicke Jacken bei sich. Dutzende Rucksäcke und große graue Plastiksäcke liegen in unmittelbarer Nähe herum.

„Da bin ich an die Falschen geraten, das Geld war weg“

Aksaray ist ein Treffpunkt für Immigranten aus den unterschiedlichsten Ländern. Syrer, Iraker, Afghanen trifft man hier ebenso häufig wie Pakistanis oder Iraner. Sie alle haben ein Ziel: Europa, die EU, zumeist Deutschland, Frankreich, Holland oder die skandinavischen Staaten. Hier treffen sie sich mit Schleusern, zahlen Vorschüsse oder deponieren für ihre illegale Weiterreise bestimmtes Geld bei zwielichtigen Agenturen, die hier ihren Sitz haben.

Istanbul ist ein Drehkreuz für die illegale Einreise nach Europa. Das bestätigen auch Migranten in Deutschland der JUNGEN FREIHEIT. Etwa Sahir, ein 32 Jahre alter Afghane, der vor wenigen Wochen mit fünf weiteren Landsleuten in Bayern angekommen war. „Jetzt kann ich es ja sagen, wir haben alles über Schleuser in Istanbul organisieren lassen. 7.000 Euro habe er bezahlt. Zuvor schon einmal 3.000 Euro. „Aber da bin ich an die falschen Leute geraten, und das Geld war weg.“ Verwandte, die bereits in Europa leben und arbeiten, hätten ihm neues Geld besorgt. Und diesmal klappte es. Doch über die Schleuser selbst könne er nichts sagen, er wisse auch nichts über sie. Seine Freunde berichten ähnliches, kennen auch die Parks von Aksaray.

Dort klopft der Mann in dem Anzug einem der Migranten gerade freundschaftlich auf die Schulter. Dann drückt er ihm etwas in die Hand. Es ist nicht genau zu erkennen, was es ist. Die beiden Männer verabschieden sich. Der Mann im Anzug verläßt den Park wieder. Ist es ein Schleuser? Wir folgen ihm. Es geht durch Unterführungen, über den großen Platz vor der Metrostation von Aksaray, durch Menschenmassen mit orientalischem Stimmengewirr. Wieder eine Unterführung, schließlich geht es durch enge verwinkelte Gassen, in denen es nicht immer leicht ist, dem Mann im Anzug unauffällig zu folgen. Dann hat er sein Ziel erreicht. Ein Reisebüro, in dem er verschwindet.

Es gibt viele Reisebüros in dieser Ecke. Viele Handy-Shops, viele Busunternehmen, viele Autovermietungen. Ein paar Straßen weiter befindet sich ein kleiner Garten, unweit der Metrostation. Männer sitzen in Cafés, trinken Tee und rauchen. Mobiltelefone wechseln an den Tischen ihre Besitzer, werden auseinander- und wieder zusammenmontiert, Sim-Karten ausgetauscht. Dann erheben sich zwei Migranten von einem der Tische. Sie haben mehrere Rucksäcke dabei, zudem einen grauen Plastiksack. Sie verabschieden sich, nehmen die Handys an sich. Sie gehen einige Straßen weiter, suchen ein Geschäft auf, an dessen Eingang Rettungswesten ebenso zum Verkauf angeboten werden wie Handschuhe, warme Mützen, Regenkleidung, Rucksäcke. Die beiden Männer kaufen Turnschuhe und Rettungswesten, laden alles in den grauen Plastiksack.  

Viele Migranten sind auch hier zu sehen. Viele mit Plastiksäcken, aus denen manchmal das leuchtende Orange einer Rettungsweste herausschimmert. Schnell ist klar: die Gegend nahe der Metrostation von Aksaray bietet eine perfekte Schleuser-Infrastruktur: Handyläden für die notwendige Kommunikation, Reiseunternehmen für die Buchung von Unterkünften, Autovermietungen und Busunternehmen für den Transport, Läden mit passender Kleidung für die gefahrvolle Weiterreise.

„In dem kleinen Garten wickeln die Schlepper ihre Geschäfte ab. Die Handyläden, Autovermietungen und Reiseagenturen sind ihre Büros“, erklärt unser Informant, den die JF über einen Verbindungsmann auf der Dachterrasse einer Bar nahe der Hagia Sophia trifft. Rauchschwaden von Shisha-Pfeifen hängen in der Luft, als er über die Hintergründe des Schleusergeschäfts zu erzählen beginnt.  „Das Ganze ist äußerst gefährlich“, warnt er. Keine Namen. Nur Informationen über die Abläufe, lautet unser Deal. Die Schleuser-Mafia lasse sich nun mal nicht gern in die Karten sehen. Zu lukrativ sei das Geschäft. So lukrativ, daß sie auch vor Mord nicht zurückschrecken würde, käme ihr jemand zu nahe.

Auch IS-Anhänger nutzen die Dienste der Schleuser

„Da wird keiner reden und schon gar nicht zugeben, daß er sich als Schleuser betätigt. Niemand will sein Leben riskieren“, sagt unser Informant. Er kennt die Schleuser-Szene, weiß, wie ihre Geschäfte ablaufen. „Die Migranten hinterlegen ihr Geld für die Reise bei einer Agentur. Im Gegenzug wird ihnen alles bezahlt: Ausrüstung, Kleidung, Busfahrten, Übernachtungen und so weiter.“ Doch erst wenn alles erfolgreich abgelaufen sei, erhielten die Schlepper an den einzelnen Durchgangsstationen ihr Geld.

Die Schleuser in Istanbul hingegen koordinieren Routen über die Grenzen, organisieren Fahrzeuge und Unterkünfte, sind oft für die gesamte Logistik der Migranten verantwortlich. Ohne sie würde die gegenwärtige Asylkrise in Europa nicht existieren. Manche von ihnen sind nur Gelegenheitsarbeiter. Leute, die durch das Schmuggeln von Menschen über die Grenze ein lukratives Zubrot verdienen. Andere sind mafiaähnlich professionell organisiert, mit klaren Zuständigkeiten und Aufgabenbereichen.

Dann wiederum existieren Zuarbeiter, wie etwa Bulgaren oder Rumänen, die über Kurdisch oder Arabisch sprechende Mittelsmänner in den Parks von Aksaray ihre Pässe zum Verkauf anböten. „Anschließend gehen sie zu ihrer Botschaft, sagen, sie haben ihren Paß verloren und erhalten einen neuen.“ Zwischen 3.000 und 3.500 Euro würden Schleuser für ein EU-Reisedokument zahlen, in das sie dann ein gefälschtes Foto einsetzen.

Trotzdem sei das Risiko, mit einem solchen Paß aufzufliegen, hoch. „Die haben deshalb an Kontrollstellen immer noch Leute, die sie schmieren.“ Etwa an den Check-in-Schaltern von Flughäfen, beim Zoll, bei der Polizei oder der Küstenwache. „Per Handy teilen die Schleuser ihren Kunden mit, wann genau sie einen Kontrollpunkt aufsuchen sollen.“ Nämlich dann, wenn der Geschmierte am richtigen Ort seinen Dienst verrichte.

In den Parks von Aksaray werden die Migranten gezielt von den Schleusern angesprochen. Preislisten gehen herum. Für den Landweg über Griechenland oder Bulgarien. Für den Seeweg über die Ägäis. Für komplette Durchfahrten mit dem Lkw von Istanbul bis nach Deutschland ebenso wie für die illegale Einreise mit dem Flugzeug. Letztere gehe zwar schnell, sei aber auch teuer und die risikoreichste Variante.

„Da fliegen die meisten auf.“ Zudem müsse der „Kunde“ für die illegale Einreise auf dem Luftweg 10.000 Euro aufbringen. Nur die Lkw-Tour von Istanbul nonstop nach Deutschland sei mit 13.000 Euro noch teurer. „Weil es die sicherste und nach dem Flugzeug die schnellste Variante ist.“ Dabei handele es sich um einen Komplettpreis, bei dem bereits alle möglichen Stellen geschmiert worden seien. Günstiger sei der Weg über die Ägäis mit dem Schlauchboot, die für 1.500 bis 3.000 Euro zu haben sei. „Aber auch da gibt es eine Luxusversion.“ Im Hafen von Bodrum etwa gingen als Touristen getarnte Migranten an Bord von Yachten, die die Schleuser gechartert haben. „Sie haben Leute in ihren Reihen, die genau sagen können, wann und wo gerade ein Patrouillenboot unterwegs ist. Und wenn sie dann auch noch die Küstenwachen bestochen haben, gelangen die Kunden problemlos nach Griechenland.“

Am preiswertesten sei die Route über Afrika. Per Schlauchboot von Libyen über das Mittelmeer nach Italien. Istanbuls Schlepper organisieren auch diesen Weg, sogar noch weiter bis an die Grenzzäune von Ceuta und Melilla. Zur Kundschaft zählen alle Seiten. Derzeit vor allem Syrer. Jene, die vor dem Assad-Regime und dem Terror seiner arabisch-sozialistischen Baath-Partei fliehen ebenso wie Assad-Anhänger, die den Greueln der IS-Terroristen über die sogenannte Polarlinie entkommen wollen. Über Moskau gelangen sie an das Nordkap, von dort in die skandinavischen Länder.

Auch in Westeuropa angeworbene IS-Anhänger und Islamkonvertiten nehmen die Dienste der Schleuser in Anspruch. Über Istanbul, wo der IS im Stadtteil Fatih gleich mehrere Stützpunkte unterhält, reisen sie illegal nach Syrien und in den Irak.

Kriminalität wird zum Druckmittel der Politik

Wer aber sind die Schleuser? Wer sind ihre Hintermänner, wer organisiert die gefälschten Pässe, koordiniert die Reiserouten, schmiert Grenzbeamte, Wachdienste und Kontrolleure, wer kassiert das Geld? Die Fragen sind nicht leicht zu beantworten. Es existieren keine eindeutigen Organisationsstrukturen. Manche arbeiten auf eigene Faust, fungieren als Gelegenheitsarbeiter. Sie nutzen die Asylkrise, um sich ein attraktives Zusatz-einkommen zu verschaffen.

„Eine zentrale Rolle bei der organisierten Schleuserkriminalität spielt allerdings auch die kurdische PKK“, sagt unser Informant. Wie der Drogenhandel, Schutzgelderpressung und Prostitution sei sie ein Geschäftszweig der Untergrundorganisation, der nicht neu, aber durch den massiven Anstieg der Zuwanderungsbewegungen in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen habe. Unterstützt werde die PKK dabei sowohl von Rußland als auch dem Iran.

Längst ist die Schleuserkriminalität zu einem Druckmittel der Politik geworden. Als die EU im vergangenen Sommer ein UN-Mandat erhalten wollte, um vor der libyschen Küste gegen Schlepper vorzugehen, scheiterte dies am Veto Rußlands. Auch die Türkei nutzt die Asylkrise derzeit, um Druck auf Deutschland und die EU auszuüben. Staatschef Erdogan hatte bereits in Erwägung gezogen, muslimischen Migranten die türkische Staatsbürgerschaft zu verleihen, um den „Glaubensbrüdern“ zu helfen.  

Zum Unmut nicht weniger seiner Landsleute. „Recep Tayyip Idiot“, nennt ihn Selcuk deshalb verächtlich. Der 54 Jahre alte Taxifahrer hatte mehrere Jahre in Duisburg gelebt und gearbeitet, ehe er in die Türkei zurückkehrte. Die Pläne seines Staatschefs könne er nicht nachvollziehen. Bei nicht wenigen Türken hatten sie für Unmut gesorgt. Gerüchten zufolge sollen sogar zahlreiche Syrer bereits im Besitz eines türkischen Passes sein. 

Doch hinter Erdogans Paßoffensive könnte durchaus Kalkül stecken. Gerade erst ist Bundeskanzlerin Angela Merkel angesichts der Asylkrise in Europa um Hilfe beim türkischen Staatschef vorstellig geworden. Als Ergebnis kristallisiert sich heraus, daß Deutschland einen Milliardenbetrag zur Verfügung stellt, damit Migranten in der Türkei besser versorgt werden und nicht nach Europa gelangen. Im Gegenzug soll für die Türkei ein EU-Beitritt wieder in Aussicht rücken, zugleich stehen Visa-Erleichterungen für die Einreise nach Deutschland mit türkischem Paß im Raum. Jenen Paß, den Erdogan muslimischen Migranten großzügig ermöglichen möchte.