© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/15 / 30. Oktober 2015

Auf Messers Schneide
Türkei: Präsident Erdogan zieht alle Register, um bei der Neuwahl wieder die Zweidrittelmehrheit zu erringen / Abschneiden der Kurdenpartei sorgt für Spannung
Marc Zoellner

Kommenden Sonntag schlägt für Recep Tayyip Erdogan die Stunde der Wahrheit. Hoch hatte der türkische Präsident nach der Parlamentswahl vom 7. Juni dieses Jahres gepokert; jener Volksabstimmung, welche seiner Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) eigentlich bereits die Zweidrittelmehrheit in der Abgeordnetenversammlung der Republik einfahren und Erdogan somit eine Verfassungsänderung zugunsten eines autoritär ausgerichteten Präsidialsystems ermöglichen sollte.

Doch das Debakel der Auswertung saß tief: Kaum 41 Prozent der wahlberechtigten Türken schenkten ihrem Landesvater sowie seinem Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu das Vertrauen. Mit gerade einmal 258 der zu verteilenden 550 Sitze genügte das Wahlergebnis der AKP noch nicht einmal zur Regierungsbildung. Untragbar hielten auch die beiden großen Oppositionsparteien, die kemalistische CHP sowie die nationalistische MHP, die bereits vorab angekündigten Pläne Erdogans zur Beschneidung der Rechte des Parlaments. Beide zogen sich rasch aus den Koalitionsverhandlungen mit der AKP zurück – und diese wiederum lehnte Sondierungsgespräche mit der kurdisch dominierten HDP unter Selahattin Demirtas, dessen Bewegung aufgrund ihres mit 13,1 Prozent und 80 Sitzen hervorragend ausgefallenen Ergebnisses erstmalig selbst im Parlament vertreten war und somit als eigentlicher Sieger der Juniwahl galt, kategorisch ab.

Erdogan sah sich vor dem Scherbenhaufen seiner eigenen Politik im Zugzwang, seine letzte Trumpfkarte auszuspielen: Neuwahl. Erneut werden die rund 55 Millionen Wahlberechtigten im In- und Ausland an die Wahlurnen sowie in die Konsulate gerufen, um über die Zukunft ihres Landes abzustimmen. Da in der Türkei eine allgemeine, bei Verstößen mit rund 13 Euro geahndete Wahlpflicht gilt, dürfte der Zustrom der Wählermassen auch diesmal ebenso hoch ausfallen wie Anfang Juni. Damals fanden knapp 85 Prozent der Abstimmungsberechtigten ihren Weg zur Urne.

Doch Erdogans Hoffnung, daß die kurdische HDP diesen November an der Zehnprozentmarke scheitern und somit ihren Wiedereinzug in die Nationalversammlung verpassen würde – eine Situation, die der AKP beinahe schon automatisch die absolute Mehrheit sichert – steht auf Messers Schneide. Gegenteilig prognostizieren jüngste Umfragen aus der Türkei eine Pattsituation im Vergleich zum Juni: Erneut steckt die AKP bei rund 41 Prozent fest, die HDP dürfte wieder auf gut 13 Prozent kommen. Lediglich die Kemalisten der CHP konnten in sämtlichen Befragungen ihr Ergebnis auf Kosten der zwölf Kleinstparteien um drei bis fünf Prozentpunkten steigern.

„Im Moment ist es sehr wahrscheinlich vorauszusagen, daß wir am Morgen des 2. November nicht mit einem Ergebnis aufwachen werden, welches sich von jenem des 7. Juni unterscheidet“, bestätigte auch Özer Sencar, Vorsitzender des AKP-nahen Meinungsforschungsinstituts Metropoll, vergangene Woche der Nachrichtenagentur Reuters.

Erdogan gibt sich allerdings noch längst nicht geschlagen. Vergangene Woche besuchte der Präsident den Zentralbahnhofsvorplatz in Ankara, dem Schauplatz jenes Massakers zweier Selbstmordattentäter, welche am 10. Oktober dieses Jahres über 100 Demonstranten mit in den Tod rissen und rund 500 weitere zum Teil schwer verletzten. Eine symbolische Geste des ansonsten zum Terrorakt schweigsamen Präsidenten, um die jenseits der separatistischen PKK stehenden türkischen Kurden in die Reihen der AKP-Wählerschaft zu integrieren.